Selbstführung: das Fundament von Führung
Wer Andere führen möchte, muss sich zunächst selbst führen können. So oder so ähnlich lesen sich in wissenschaftlichen Texten die einleitenden Gedanken über Selbstführung. Das macht auch Sinn, denn in der Selbstführung können wir sowohl das aktive Führen üben, als auch die Auswirkung von Führung auf Geführte (in diesem Fall: uns selbst) verstehen lernen. Selbstführung ist der kraftvollste Übungsraum für Führung. Denn Selbstführung ist auf den ersten Blick gar nicht so anders als Führung von Teams, Ideen, Unternehmen oder Projekten. Es braucht – hier wie dort – Ziele und Visionen, Ressourcen und Pläne, dazu Management, Kommunikation und schliesslich auch Controlling. Und dennoch scheint es schwerer, sich selbst eine gute Führungskraft zu sein als anderen. Warum?
Führung beginnt bei uns selbst
Wenn wir andere führen, wollen wir mit ihnen gemeinsam größere Ziele erreichen. Zu diesem Zwecke ermöglichen wir ihnen, ihre Potentiale zu heben, aus sich selbst heraus für die gemeinsamen Ziele wirksam zu sein und sich als Teil des Ganzen zu begreifen. Und das muss auch für uns selbst gelten. Doch oft fällt es uns leichter, die Stärken und Ressourcen anderer zu erkennen als die eigenen. Dieser Text soll eine Einladung sein, sich intensiver mit seinen eigenen „inneren Mitarbeitern“ auseinander zu setzen.
Zunächst wollen wir aber den Background anleuchten und die gängige Definition von Selbstführung aufgreifen und zur Diskussion stellen. Starten wir mit einer kleinen Reise zu den Feldern, auf denen Selbstführung in der Theorie bearbeitet wird. In der Wissenschaft befinden sich diese Felder vornehmlich in den Bereichen Verhaltenswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften und vor allem an ihren Schnittstellen. Der Begriff bekam ab den 1980er Jahren zunehmend Aufmerksamkeit, zumeist in Verbindung mit Selbstmanagement.
Es ist hilfreich, diese Herkunft im Hinterkopf zu behalten, wenn man sich mit Beiträgen zu Selbstführung auseinandersetzt: nicht selten spiegelt sich dort das Menschenbild des Homo Oeconomicus wieder. Die Idee des Menschen als reinen „Nutzenmaximierer“, die im vergangenen Jahrhundert durch die Wirtschaftswissenschaften geisterte, wurde aber mittlerweile vielfach widerlegt. Es hilft uns aber zu verstehen, warum oft die Idee Selbstoptimierung beim Gedanken an Selbstführung mitschwingt.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden Beiträge über Selbstführung interdisziplinär und bedienten sich der Erkenntnissen aus der Psychologie und Neurowissenschaft. Auch das kann seine Tücken haben. Für viele von uns lesen sich die Beiträge aus der klassischen Psychologie durch ihre Wortwahl oft eher defizitär anstatt befähigend. Wir denken da zum Beispiel an das Stichwort „Selbstregulation„. In der Wissenschaft wertfrei verwendet, löst es bei uns oft eher wertende Assoziationen aus.
Selbstführung als Selbstbeeinflussung?
Nach Selbstoptimierung klingt zunächst auch der folgende einleitende Satz eines Aufsatzes über Selbstführung von Marco Furtner. Er ist Professor für Leadership an der Universität Liechtenstein und einer der aktivsten deutschsprachigen Wissenschaftler im Bereich Selbstführung.
„Allgemein definiert sich Self-Leadership als selbstbeeinflussender Prozess zur Steigerung der persönlichen Effektivität (Influencing Oneself, Neck und Manz 2010, S. 4).“
Die beiden amerikanische Kollegen Neck und Manz, auf die er sich hier bezieht, sind so etwas wie die Urväter der Selbstführungsforschung. In seinem Buch „Self-Leadership Basics“ schreibt er etwas ausführlicher in der Einleitung folgenden Absatz:
„Im Kern geht es bei Self-Leadership darum, die eigenen Gedanken, Emotionen und das Verhalten zielorientiert zu beeinflussen und in eine positive Richtung zu lenken. Um sich selbst effektiv zu beeinflussen, benötigt es ein hohes Ausmaß an Selbstreflexion, kurzum die Fähigkeit zur achtsamen Selbstbeobachtung. Mittels Selbstbeobachtung gewinnen Menschen Macht, Wissen und Kontrolle über sich selbst. Sie lernen ihre Stärken und Schwächen kennen, setzen sich Ziele und können ihr Verhalten in eine gewünschte Richtung lenken.
Selbstbeobachtung dient nicht nur zur Kontrolle der eigenen Gedanken, Emotionen und des eigenen Verhaltens, sondern ist ein wichtiges Feedback-Instrument. Nur mittels Selbstbeobachtung können wir uns unmittelbar selbst eine Rückmeldung geben. Wir lernen, uns selbst effektiv zu beeinflussen und unsere Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen in eine gewünschte Richtung zu lenken. Mittels Selbstbeobachtung können wir den Status quo (Istzustand) ermitteln und uns selbst Ziele setzen (Sollzustand).“
Was hier einerseits treffend und umfassend benannt wird, bedient sich andererseits einer Wortwahl, die wir zur Diskussion stellen wollen. Was implizieren Worte wie Macht, Kontrolle, Beeinflussung in Bezug auf unsere ganz individuelle Selbstführung? Inwieweit lösen diese Worte bei uns Assoziationen aus, die nicht gerade einen Potential- und Ressourcen-orientierten Ansatz unterstützen? Und welche erweiterten Konzepte sind darin dennoch enthalten, die uns in auf Potential-orientierte Weise weiterhelfen könnten?
Selbstführung als „Super Leadership“?
Lassen wir noch einen weiteren Wissenschaftler zu Wort kommen, Günther Fred Müller. Als mittlerweile emeritierter Professor für Sozial- und Arbeitspsychologie beschäftigte er sich intensiv mit Selbstführung an der Universität Koblenz. Er beschreibt Selbstführung in einem Aufsatz folgendermaßen:
„Selbstführung ist ein relativ neuer Ansatz psychologischer Führungsforschung. Sich selbst zu führen erweist sich vor allem dann als effektiv, wenn in Organisationen dezentral und hochflexibel zusammengearbeitet werden muss. Die Bezeichnung dieses Ansatzes als „super leadership“ kennzeichnet ein Prinzip, Führung möglichst flächendeckend zu verteilen, Verantwortung zu delegieren und Organisationsmitglieder in die Lage zu versetzen, Aufgaben in eigener Regie zu bearbeiten.
Selbstführung zielt als erstes darauf ab, eine stimmige berufliche Identität bewahren oder entwickeln zu wollen. Dazu bedarf es „innerer“ Mitarbeiter oder psychischer Potenziale und Ressourcen, die für persönlich wichtige Berufsziele bewusst und absichtsvoll aktiviert werden können. Kompetente Selbstführung verbessert die Kontrolle und Steuerung des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns. Sie basiert auf Kenntnissen über lern-, motivations- und kognitionspsychologische Gesetzmäßigkeiten, und dem Wissen, wie emotionale und volitionale Prozesse funktionieren.
Wenn Führungskräfte sich selbst führen, ist und erscheint auch ihr Verhalten authentischer und weniger rollenspezifisch. Schulz von Thun (2004) spricht hier von „wesensgemäßer“ Führung. Führungskräfte handeln in Übereinstimmung mit eigenen Werten und Prioritäten und stehen persönlich für das ein, was sie in ihrer Position für notwendig und zweckmäßig erachten.„
Welche Aspekte bringt er zum Thema Selbstführung mit dieser Zusammenfassung ins Spiel? Welche Ansätze bietet er an, die unser Interesse an Selbstführung wecken können? Inwieweit darf eine dezentrale, hochflexible Organisationen ihren Mitarbeitern Selbstführung abverlangen?
Abgrenzung zu Selbstmanagement und Selbstregulation
Abschliessend wollen wir eine kurze Abgrenzung zu den Konzepten von Selbstregulation und Selbstmanagement und eine mögliche Definition von Selbstführung anbieten.
Das Konzept der Selbstregulation kommt vor allem aus der Neuropsychologie und beschreibt oft einen eher unbewussten, automatisierten Prozess der Diskrepanz-Reduktion: die selbstinitiierte Anpassung des inneren Zustandes (basierend auf unseren Emotionen, Stimmungen, Gedanken) aufgrund eines wahrgenommenen Unterschieds zwischen diesem inneren Zustand, der grad ist, und einem stattdessen gewünschten inneren Zustand.
Beispiel: jemand nimmt uns beim Autofahren die Vorfahrt, wir erschrecken uns und sind verärgert, aber wissen, dass das keine gute Voraussetzung für sicheres Autofahren ist. Also atmen wir tief durch und entspannen unsere Hände, die sich durch die Anspannung bereits fest um das Lenkrad geklammert hatten.
Selbstmanagement kommt stärker aus den Verhaltenswissenschaften und beschreibt den Vorgang des Anpassens unseres Verhaltens an einen bestimmten Standard, meist ein klar definiertes Ziel. Eine der Grundlagen dafür bilden sogenannte Kontrollschleifen, die uns helfen Abweichungen von einem Weg oder einem Ziel zu erkennen und daraufhin festzustellen, was nun vor allem im Außen getan werden sollte, um wieder näher ans Ziel zu kommen.
Beispiel: Wir trainieren für einen Triathlon und bemerken beim Blick in die Aufzeichnungen unseres Trainings, dass das Schwimmen in den letzten Wochen deutlich zu kurz gekommen ist, weil wir abends nach der Arbeit einfach oft zu müde für’s Schwimmen waren. Daher gehen wir jetzt zweimal die Woche morgens vor der Arbeit zum Frühschwimmen in die Schwimmhalle.
Was ist dann Selbstführung?
Im Vergleich zur Selbstregulation, die vor allem im Inneren abläuft, und im Vergleich zum Selbstmanagement, das vor allem Handlungen im Außen beschreibt, umfasst Selbstführung eine komplexe Vielfalt von inneren und äußeren Aspekten. Selbstführung beschreibt was eine Person tun will (= Ziel) und warum sie dies tun will (= Motivation). Sie bezieht mit ein wie die Person das erreichen kann: welche Ressourcen und Fähigkeiten sie mitbringt und welche noch nicht genutzten Ressourcen (= Potentiale) sie dafür heben möchte. Sie beschreibt, wie die Person Stolpersteine überwindet und wie dies in Einklang mit den Werten und Bedürfnissen und den übergeordneten Verhaltenstreibern wie Interesse, Begeisterung und Freude geschehen kann (= Authentizität).
Einen sehr bekannten Ansatz für gelingende Selbstführung bietet die Selbstbestimmungstheorie (Original: Self-Detemination Theory) der beiden Wissenschaftler Edward L. Deci und Richard M. Ryan ist eine Makrotheorie der menschlichen Motivation. Einen aufschlussreichen Einblick bekommt man in diesem Kurz-Vortrag von Ed Deci. Die Forscher beschäftigten sich damit, inwieweit menschliches Verhalten selbstmotiviert und selbstbestimmt ist. Sie erforschten die angeborenen Entwicklungstendenzen und Bedürfnissen nach Wachstum der Menschen und der Motivation hinter Entscheidungen. Unter anderem fanden sie heraus, dass die Motivation für ein bestimmtes Verhalten immer davon abhängt, inwieweit die drei psychologischen Grundbedürfnisse nach Kompetenz, sozialer Verbundenheit und Autonomie befriedigt werden.
Der erste und wichtigste Schritt hin zu erfolgreicher Selbstführung ist das Setzen echter Ziele – meist im Rahmen eines übergeordneten Commitments. Wie das geht, kannst du im Beitrag „Commitment“ lesen.
Zusätzliche Literatur
- Furtner, Marco: Self-Leadership Basics, Springer Gabler, Wiesbaden 2017
- Furtner, Marco: Self-Leadership in: Furtner, Marco & U. Baldegger, Self-Leadership und Führung, Springer Gabler, Wiesbaden 2016
- Müller, Günter Fred: Mitarbeiterführung durch kompetente Selbstführung, in Zeitschrift für Management Heft 1, Januar 2006
Über die Autorin
Lena Schiller ist Politikwissenschaftlerin, Buchautorin und Coach. Sie hat mehrfach gegründet, ist Co-Director des House of Leadership und beschäftigt sich mit Transformation, Embodiment und Leadership.
Seminar: Seven Summits Journey
Artikel: Leadership – eine Einführung
Artikel: Haltung – die kraftvollste Form der Selbstführung