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Haltung: die kraftvollste Form der Selbstführung

Das Wort Haltung stammt unter anderem vom mittelhochdeutschen »halten« ab, das „hüten, schützen, bewahren“ bedeutete. In unserer Alltagssprache wird Haltung heute einerseits in Bezug auf das Körperliche verwendet: jemand hat sichtbar eine aufrechte Körperhaltung. Andererseits nutzen wir es auch in Bezug auf das Mentale: jemand hat angesichts einer schwierigen Situation Haltung bewiesen oder in einer Grundsatzfrage seine Haltung gezeigt. Haltung beschreibt also einerseits den Bezug des Menschen zu sich selbst und andererseits den Bezug des Menschen zur Welt.

Wie entsteht Haltung

Die Meinung anderer

Wir alle kennen die berühmte Gretchenfrage, als in Goethes „Faust I“ Gretchen Heinrich Faust die Frage stellt: „Nun sag‘, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub‘, du hältst nicht viel davon.“ Mit ihrer Frage nach seiner Haltung möchte Gretchen nicht einfach nur seine (momentane) Meinung sondern sein Absicht und Gesinnung aufdecken. Unsere Haltung beschreibt also unsere grundlegenden, tief verankerten Bezug zu Themen, Fragestellungen, der Welt und unseren Mitmenschen.

Mache mal den Selbstversuch, indem du dich (oder jemand anderen) zunächst fragst: was ist deine Meinung zum Klimawandel, zur Impfdebatte, zu Abtreibung oder Religion, zum Brexit oder zu Krieg? Und dann frage dich (oder den anderen) im Anschluss: Was ist deine Haltung zum Klimawandel, zur Impfdebatte, zu Abtreibung, zu Religion oder zum Krieg etc.? Achte mal darauf: Wie unterscheiden sich die Antworten? Ein offensichtlicher Unterschied ist zum Beispiel, dass unsere Meinungen sich oft ändern und gerne ändern dürfen. Bei unserer Haltung passiert das deutlich seltener. Und während wir unsere Meinung oft laut, stark und selbstbewusst verproben, kommt unsere Haltung deutlich subtiler und leiser daher. Es passiert uns sogar eher mal, dass wir sie gar nicht erst vertreten. Wie kommt das? Hier spielt unser Körper eine wichtige Rolle.

Warum Haltung so schwer sein kann

Eine Zeit lang war es bei Einstellungstests oder Vorstellungsgesprächen sehr beliebt, „Wie würdest du reagieren, wenn…“-Fragen zu stellen. Was, wenn du einen Kollegen beim Diebstahl erwischst? Oder wenn dein Chef einen Mitarbeiter disst? Wenn du schon wieder nicht die versprochene Gehaltserhöhung bekommen hast. Unsere Antwort ist meist eindeutig: wir würden das tun, was offensichtlich das Richtige ist! Doch meist müssen wir gar nicht so weit zurückdenken und finden eine Situation, in der wir uns selbst allerdings dieses „das-Richtige-tun“ schuldig geblieben sind. Das kommt bei uns allen vor.

Aber warum? Dazu müssen wir ein bisschen ausholen. Die meisten Menschen, die in der westlichen Hemisphäre aufgewachsen sind, glauben oder hoffen, dass sie einen freien Willen haben. Wir sind der festen Überzeugung, unabhängige Individuen zu sein und auf dieser Basis unsere Entscheidungen und Handlungen selbstbestimmt auszuführen. Tatsächlich trifft man diese Überzeugung in den Ostasiatischen Denkweisen nur sehr selten an. Hier steht das unter anderem Kollektiv deutlich stärker im Vordergrund. Obwohl wir natürlich die Fähigkeit haben, unabhängig von unserer Umwelt zu agieren, machen wir das deutlich weniger, als wir glauben.

Dabei sind wir – wie alle Menschen auf dieser Erde – untrennbar mit der Gemeinschaft verbunden, in der wir leben. Denn in Urzeiten konnte der Mensch nur in der Gemeinschaft überleben. Daher ist uns ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Zugehörigkeit mit in die Wiege gelegt. Und mit ihm einher geht eine grandiose menschliche Überlebensstrategie: wir sind Meister im Anpassen – besonders an unsere soziale Umgebung. Das Bedürfnis und die Fähigkeit ist so inhärent, dass wir oft nicht merken, wie stark sie – auch auf verkörpernde Weise – auf uns wirken.

Haltung vs. Konformität

Man weiß zum Schluss fast nicht mehr, ob man lachen oder schon weinen soll, angesichts so viel Konformität. Was uns allen übrigens genauso angeboren scheint, ist der Impuls jetzt zu denken: „Naja, gut, aber mir würde das nicht passieren, ich würd da nicht mitmachen!“ Auch das wurde von Wissenschaftler*innen (leider) vielfach widerlegt. Im Bibliotheksbeitrag über Emotionen könnt ihr ein Beispiel von Krankenschwester, die sich emotional bei einander ansteckten. Obwohl sie sich durch das Schichtsystem nicht persönlich begegneten, synchronisierten sie sich als eine zusammengehörige Gemeinschaft auf eine gemeinsame Emotion.

Haltung verlieren

Euch ist vielleicht auch noch Philip Zimbardos „Stanford-Gefängnis-Experiment“ in Erinnerung: Auf eine Lokalanzeige im kalifornischen Palo Alto meldeten sich 70 junge Studierende der Elite-Uni Stanford, die nach einem Losverfahren zur Hälfte zu „Gefangenen“ zur anderen Hälfte zu „Wärtern“ erklärt wurden. Um diese Rollen so realistisch wie möglich auszufüllen, wurden die ausgelosten Gefangenen zu Hause verhaftet und dann in ein nachgebautes Gefängnis in der Uni gebracht. Die Wärter hatten die Aufgabe in diesem Gefängnis-Nachbau für Ordnung sorgen. Sie behandelten die Gefangenen, wie es damals in den USA üblich war. Sie nahmen ihnen ihre Kleider ab, entlausten sie und wiesen eine Nummern zu.

Die Wärter sollten für Ruhe sorgen, aber das Gegenteil trat ein. Die Situation eskalierte sehr schnell: Schon am ersten Tag schikanierten die Wärter die Gefangenen und eine sich aufschaukelnde Aggressionen auf beiden Seiten führte dazu, dass das Experiment nach wenigen Tagen abgebrochen werden musste. Wer es nochmal genau nachlesen mag, sei eingeladen, seine Gefühle, Gedanken und seine Körperreaktionen während des Lesens genau zu beobachten.

Es ist davon auszugehen, dass keiner der Teilnehmer aus der Wärter-Gruppe dieses Experiments per se ein schlechter Mensch war, der morgens aufstand und sich überlegte, wie er heute einen Menschen demütigen kann. Sie alle hatten ganz bestimmt eigentlich eine klare Haltung zum Thema Menschenwürde. Aber warum standen sie nicht für sie ein? Und warum haben wir wahrscheinlich alle schon mal die Erfahrung gemacht, dass wir eigentlich eine klare Haltung hatten, aber für diese nicht vehement einstanden?

Das Sicherstellen von Zugehörigkeit

Der britische Leadership-Coach und Buchautor Pete Hamill leitet das in seinem Buch „Embodied Leadership“ folgendermaßen her:

Wir spüren sozialen Druck als Gefühl von Unbehagen, das sich in unserem Körper breit macht. Es ist das Unbehagen, während unser Körper versucht, uns zu warnen, dass wir dazugehören müssen, dass Ausgrenzung gefährlich ist. Unser Körper zeigt Unbehagen, weil der somatische Marker für Zugehörigkeit sehr tief in uns sitzt und unsere Körper auf einer tieferen Ebene das Ausgegrenzt-werden mit Tod gleichsetzt. Deshalb ist es so schwer für uns, in schwierigen Situationen einfach einzugreifen. Unser Gehirn erschafft lieber eine Geschichte, in der wir anderen die Verantwortung oder Schuld zusprechen, als Rationalisierung für die Handlungen, die wir nicht ausführen konnten. All dies geschieht unbewusst und sehr schnell, und einige von uns bemerken es vielleicht nicht einmal.“

Der Schlüssel, um hier einen Ausweg zu erschaffen, ist, dass wir uns gewahr werden, dass jede Situation, wo wir mit anderen zusammen agieren, Druck auf uns ausübt. Der Druck Zugehörigkeit sicherzustellen. Wir alle können uns an eine Situation erinnern, wo wir mal einen Arbeitgeber, einen Verein oder eine andere soziale Struktur verlassen haben, und plötzlich das Gefühl hatten, wie ganz viel Druck abfällt. Dieses Gefühl von Druck, den wir oft erst wahrnehmen, wenn er abfällt, ist hier gemeint. Doch wie lernen wir, diesem Druck – wenn gewünscht – besser zu widerstehen? Dazu lohnt es sich zunächst in sich hinein zu spüren: wie zeigt sich dieser Druck gedanklich, emotional aber eben auch körperlich in diesen Situationen? Sei er auch noch so harmlos. Danach können wir mal ausprobieren, was in unseren Gedanken, Emotionen und Körperempfindungen passiert, wenn wir dem Druck nicht nachgeben.

Haltung einnehmen

Als Trockenübung kann man sich folgender Situation mal aussetzen: wir widersprechen einem nahen (aber vielleicht nicht gerade geliebten) Menschen bei einem Gespräch über gesellschaftliche Themen. Dabei zeigen wir uns nicht beschwichtigend, ausgleichend oder anderweitig annähernd. Wir bleiben ohne viele Argumente bei unserer Meinung, „halten“ diese und beobachten dabei, was alles in uns passiert. Was wir wahrscheinlich spüren, sind die Anzeichen, die unser Gehirn und Körper für „Risiko“ abgespeichert haben und jetzt aussenden.

Je besser wir diese kennenlernen, um so besser werden wir sie künftig erkennen. So bekommen wir die Chance, selbst kurz zu entscheiden, ob es tatsächlich gerade besser ist, dem Druck nachzugeben und Zugehörigkeit herzustellen. Oder: ob wir unsere Haltung einnehmen und verteidigen wollen.

Die Formulierung „eine Haltung einnehmen“ birgt dabei schon die körperliche Komponente. Auch die englischen Übersetzungen „standing your ground“ oder „taking a stand“ deuten an, dass wir diesen Schritt nicht nur über unseren Kopf sondern vor allem durch unseren Körper umsetzen. Wir brauchen hier keine Anleitung aufschreiben, wie unser Körper Haltung einnehmen, um uns zu helfen für unsere innere Einstellung einzustehen. Wir alle spüren instinktiv genau, wie das geht.

Haltung einnehmen ist Selbstführung in seiner stärksten Form. In seinem Buch fasst Pete Hamill ein paar übergeordnete Strategien zusammen, wir wir im Laufe unseres Lebens immer wieder Haltung einnehmen können. Es lohnt sich diese einfach ab und zu zu üben. Ähnlich wie beim Schwimmen gilt nämlich besonders beim Thema Haltung: was wir nicht vorher intensiv in einem sicheren Raum (Nichtschwimmerbecken) geübt haben, wir uns nicht plötzlich zur Verfügung stehen, wenn es wirklich drauf ankommt.

Haltung einnehmen üben

Zwei Gute Übungen sind:

Nein sagen / eine Absage erteilen: Das fällt vielen schwer, weil wir oft ein Nein an eine Sache mit einem Nein an den Menschen, der die Sache vertritt, verwechseln. Ein Nein an einen Menschen bedroht seine oder unsere Zugehörigkeit und ist damit schwer auszuhalten. Übung: Stellt euch eine Situation vor, in der ein Menschen eine Bitte an euch heranträgt. Zum Beispiel, ob ihr noch ein zusätzliches Projekt übernehmen könnt. Oder: Ob ihr bezüglich seins Fehlers ein Auge zudrücken könnt, damit er keinen Ärger von höherer Stelle bekommt. Überlegt, wie ihr die Bitte gedanklich, emotional und körperlich ablehnen könnt, ohne den Menschen dabei abzulehnen.

Auf etwas bestehen: Jetzt sind wir diejenigen, die ein Nein riskieren. Auch das fühlt sich bedrohlich an. Stelle dir vor, wie du auf etwas bestehen musst, das dir wirklich am Herzen liegt. Nimm zum Beispiel einen deiner Werte, z.B.: Gerechtigkeit. Welche Gedanken sind hilfreich, welche Gefühle und welche Körperhaltung, damit du von einem Ort der inneren Stärke einen anderen Menschen wertschätzend von deiner Sache überzeugen kannst?

Zusätzliche Literatur

Hamill, Pete: Embodied Leadership – a somatic approach to developing your leadership, KoganPage 2016

Über die Autorin

Lena Schiller ist Politikwissenschaftlerin, Buchautorin und Coach. Sie hat den 1. Dan (Aikido) und 25 Jahren lang drei verschiedene Aikido-Arten trainiert. Sie ist Co-Director des House of Leadership und beschäftigt sich mit Transformation, Embodiment und Leadership.

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