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Authentizität: Leadership und Unvoreingenommenheit

„Be yourself; everyone else is taken.“ (Oscar Wilde). Das Wort Authentizität stammt vom griechischen Wort αὐθεντικός (authentikós) ab = echt. Es kann auch auf authenticus (spätlateinisch) zurückgeführt werden = verbürgt, zuverlässig. Als authentisch gilt etwas, wenn unsere Wahrnehmung des unmittelbaren Scheins und die des eigentlichen Seins als übereinstimmend befunden werden. Authentizität hat also unsere Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung zur Grundlage: Wir nehmen uns selbst als authentisch wahr, wenn wir uns gemäß unserem wahren Selbst, also den eigenen Werten, Gedanken, Emotionen, Überzeugungen und Bedürfnissen (= Sein, Innen) ausdrücken. Und wenn wir dementsprechend auch handeln (= Schein, Außen).

Das wahre Selbst im Alltag

Jeder kennt diesen Gedanken, den Udo Lindenberg berühmterweise einmal sang: “Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur so selten dazu.” Ursprünglich stamm der Satz aber vom Schriftsteller Ödön von Horváth.

Oft verbinden wir Authentizität mit Aufrichtigkeit, manchmal sogar mit Schonungslosigkeit: einfach man selbst sein, ohne Rücksicht auf Verluste. Doch Authentizität ist viel mehr als das, deutlich komplexer und oft anstrengend. Gleichzeitig ist sie eine große Ressource und spielt eine entscheidende Rolle dabei, ob und wie wir andere Menschen und unsere Ziele erreichen.

Die beiden amerikanischen Sozialpsychologen Michael H. Kernis und Brian M. Goldman definieren in einem der umfassendsten Texte zum Thema Authentizität ebendiese so: „das ungehinderte Funktionieren des eigenen wahren Selbst im alltäglichen Handeln“. Klingt erstmal sehr allgemeingültig, beinahe trivial. Verkürzt würden wir sagen, dass uns jemand „echt“ vorkommt. Doch wenn wir begründen müssten, woran wir das festmachen, würden wir sicher schnell ins Stocken kommt. Woran machen wir die „Echtheit“ fest? Die Wissenschaftler zeigen nach einer intensiven Reise durch alte und neue philosophische Betrachtungen von Authentizität folgendes auf: es geht um die Frage, inwieweit das „Sein“ eines Menschen sich in seinem Handeln für uns sichtbar widerspiegelt.

Im Alltag verkürzen wir Authentizität manchmal auf den Aspekt der Ehrlichkeit und verkennen dabei wichtige Aspekte dieses komplexen Konzepts. Den laut der Wissenschaftler bildet eine ganz andere Eigenschaft die Grundlage von Authentizität: die nicht-abwehrende Haltung gegenüber Rückmeldungen. Das heißt: wir sind uns also nicht nur unseres Inneren bewusst und handeln entsprechend, sondern wir lassen mit großer Offenheit zu, dass andere uns unsere Außenwirkung spiegeln. Zu dieser Offenheit nach Außen kommt das Vertrauen in eigenen inneren Erfahrungen und die Bereitschaft, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen darauf aufzubauen. Hier wird die ganze Komplexität von Authentizität langsam greifbar.

Die vier Facetten von Authentizität

Als Folge ihrer Beobachtungen schlagen die Wissenschaftler daher vor, Authentizität nicht als einen einheitlichen Prozess des „Ehrlich-seins“ zu betrachten, sondern als ein Zusammenspiel von vier separaten, aber aufeinander bezogene Komponenten zu verstehen: Bewusstsein, unvoreingenommene Wahrnehmung, Kohärenz und aufrichtige Beziehungen. Jede dieser Komponenten konzentriert sich auf einen grundlegenden Aspekt der Authentizität:

  • Bewusstsein: Wir reflektieren uns regelmäßig selbst und kennen infolgedessen unser Inneres: unsere Identität, unsere Gefühle, Stärken und Schwächen, unsere Gedanken. Wir wissen was uns zu bestimmtem Verhalten antreibt und aus welchen Motiven heraus wir handeln. Und wir kennen diese nicht nur, sondern es ist uns möglich, diese im Alltag bewusst wahrzunehmen.
  • Unvoreingenommene Wahrnehmung: Wir erlauben uns einerseits bewusste Selbstwahrnehmung und bleiben urteilsfrei in Bezug auf unsere positiven und negativen Eigenschaften, unsere Emotionen, Erfahrungen usw. Dies gilt auch in Bezug auf Rückmeldungen zur Fremdwahrnehmung, der wir zunächst unvoreingenommen begegnen. Wir wehren sie nicht ab oder verzerren sie nicht.
  • Kohärenz: Wir verhalten uns als logische Konsequenz zu den ersten beiden Voraussetzungen im Einklang mit den eigenen Werten, Bedürfnissen, Motiven. Und wir sind dabei weitestgehend unberührt davon, ob wir dafür im Außen Anerkennung oder Ablehnung erwarten können.
  • Aufrichtige Beziehungen: In Beziehungen zu unseren Mitmenschen sind wir „wir Selbst“. Das beinhaltet Wertschätzung und das Streben nach Offenheit, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit in der Gestaltung von engeren Beziehungen. Es geht uns darum, anderen zu ermöglichen uns zu sehen. Auf diese Weise können andere mit uns in eine Beziehung treten, die gegenseitige Authentizität und die Übereinstimmung von Selbst- und Fremdwahrnehmung erhöht.

Warum Authentizität schwer ist

Die verschiedenen Komponenten von Authentizität klingen für die meisten von uns nachvollziehbar. Vielleicht können wir es sogar handlungsleitend verstehen und direkt umsetzen, um uns selbst als authentisch(er) zu erleben. Wir können uns und unser Verhalten bewusst reflektieren und offen Feedback einholen. Wir können es uns zur Aufgabe machen, dass unser Inneres und unser Handeln übereinstimmend ist. Und wir können unsere Beziehungen darauf aufbauen, wer wir wahrlich sind. Die deutlich spannendere Frage ist sicherlich die anschliessende: warum scheitern (aus unserer Sicht: meist andere) Menschen so oft daran einfach authentisch zu sein? – Natürlich auch wir selbst, auch wenn uns der Gedanke schmerzt.

Die Darstellung ebenso wie die Aufteilung klingen für die meisten von uns naheliegend, nachvollziehbar. Sie haben einen handlungsleitenden Aspekt: was können wir nun tun, um uns selbst als authentisch(er) zu erleben? Aber die deutlich spannendere Frage ist sicherlich die anschliessende: warum scheitern (aus unserer Sicht: meist andere) Menschen so oft daran einfach authentisch zu sein? (Natürlich auch wir selbst.) Ein Teil der Antwort könnte sein, dass unsere Persönlichkeit und unsere Werte sich nicht immer miteinander vereinbaren lassen. Dann wird Authentizität schwierig.

Warum Authentizität nicht immer erwünscht ist

Jemand hat gerade seinen Job oder seinen Partner verloren – teilen wir dann unsere enthusiastischen Erzählungen über unsere Karriere oder unser Liebesglück mit ihm? Meistens nicht, weil sich zu unserer – in diesem Falle mitteilsamen, fröhlichen – Persönlichkeit unsere Werte gesellen – in diesem Falle Rücksichtnahme und Mitgefühl -, die hier in Konflikt miteinander stehen können.

Doch auch unsere wichtigsten Werte können je nach Situation in Konflikt miteinander geraten und unseren Wunsch nach Authentizität herausfordern. Offenheit und Ehrlichkeit gehören zum Wertekanon der meisten Menschen ganz selbstverständlich dazu. Diese Werte intensiv zu leben, wird für viele Menschen mit Authentizität gleichgesetzt. Auch Respekt hat bei vielen Menschen einen hohen Stellenwert, oder verwandte Werte wie Friedfertigkeit oder Harmonie. Nicht immer schaffen wir es, absolut ehrlich unsere Meinung zu sagen und dabei unserem Gegenüber noch respektvoll oder harmonisch zu begegnen. So kann es manchmal wichtiger sein, dass Gesicht seines Gegenübers zu wahren anstatt ihm schonungslos ehrlich auf seine Fehler hinzuweisen. Wie genau können wir in einer solchen Situation noch authentisch sein?

Warum Authentizität manchmal unmöglich ist

Auch die Autoren des Authentizitätstextes geben am Ende dieses Absatzes einen Hinweis, warum wahre Authentizität so schwierig ist:

Insgesamt dokumentiert dieser historische Überblick über die Authentizität eine Vielzahl von mentalen und verhaltensbezogenen Prozessen, die dafür verantwortlich sind, wie Individuen ein zentrales Selbstgefühl entdecken, entwickeln und konstruieren und darüber hinaus. Wie dieses Kern-Selbst im Laufe der Zeit und Situation aufrechterhalten wird. Während verschiedene historische Berichte betonen, dass Authentizität eine Verbindung zwischen Denken und Handeln beinhaltet, legen sie oft auch Wert darauf, ob diese Handlungen innerhalb oder außerhalb des Selbst durch gesellschaftliche Erwartungen, Normen oder Zwänge entstehen.“ Oder kurz: Wer sind wir wirklich wirklich, wenn wir bedenken, dass Anpassung an die Gesellschaft wichtig für unser friedliches Miteinander ist?

Unser voreingenommenes Bild von uns selbst

Dies diskutiert auch Moshé Feldenkrais: ein außergewöhnlicher Wissenschaftler und Begründer einer Körpertherapie. Er veröffentlichte 1968 „Bewusstheit durch Bewegung„. Das handelt vor allem davon, wie wir (wieder) die werden, die wir sind. Auch wenn er es eher auf unsere körperliche Verfassung bezieht, so gilt seine Einleitung dem Menschen als Ganzem. Er schreibt:

Wir handeln dem Bild nach, das wir uns von uns machen. Ich esse, gehe, spreche, denke, beobachte, liebe nach der Art, wie ich mich empfinde. Dieses Ich-Bild, das einer sich von sich macht, ist teils ererbt, teils anerzogen; zu einem dritten Teil kommt es durch Selbsterziehung zustande. […]

Erziehung, wie die Gesellschaft sie bietet, wirkt nach beiden Richtungen zugleich. Durch Strafen und Entzug ihrer Unterstützung unterdrückt sie jede Neigung, die nicht zur Regel gehört und versieht gleichzeitig den Einzelnen mit Wertungen, die ihn zwingen, spontane Bedürfnisse und Wünsche zu überwinden und von sich zu tun. […]

Infolgedessen leben die meisten erwachsenen Menschen hinter einer Maske. Diese Maske ist das Gesicht, das einer vor anderen haben möchte wie vor sich selbst. Damit sie die organische Eigenart des einzelnen nicht verraten, werden eigene Zielsetzungen und spontane Bedürfnisse und Wünsche einer scharfen inneren Kritik unterworfen. Solche Zielsetzungen und Wünsche erzeugen Gewissensbisse und Angst, und darum bemüht sich der einzelne, das Bedürfnis zu unterdrücken, das sie verwirklichen möchte.

Die Kompensation, die ihm sein Leben trotz dieser Opfer lebbar macht, ist die Anerkennung, welche ihm die Gesellschaft je nach seiner Stellung in ihr und nach seinen Leistungen zollt. Der Hunger, von seinen Mitmenschen immer wieder bestätigt zu werden, ist so groß, dass die meisten ein – aber nicht IHR – ganzes Leben damit zubringen ihre Masken zu verstärken. […]

Wichtiger als Authentizität: der Versuch der Unvoreingenommenheit

Das klingt ein wenig deprimierend. Man möge dazu einerseits die Zeit und Kultur bedenken, in der der 1904 in der Ukraine geborene jüdische Feldenkrais aufwuchs. Und andererseits möge man die Fragen, die sich aus seinen Beobachtungen ergeben, zulassen: wie können wir wissen, ob oder wann wir wahrlich wir selbst sind? Was tun wir aktiv, um das herauszufinden?

Wer sich offen darauf einlässt, dass Authentizität Selbstreflexion und Unvoreingenommenheit voraussetzt, wird ein paar spannende Entdeckungen machen. Zum Beispiel: Authentizität bedeutet nicht, immer schonungslos direkt und ehrlich zu seinen Mitmenschen zu sein. Wer zum Beispiel Empathie, Harmonie oder Diskretion als Wert für sich hoch angesiedelt hat, ist nur dann authentisch, wenn er eben diese Werte lebt. Und die stehen in manchen Situationen im klaren Konflikt mit der Idee der schonungslosen Ehrlichkeit. Auch: wer für sich die schmerzhafte Entdeckung zulässt, dass er nicht immer authentisch war und sein will, nicht immer gemäß seines Inneres Seins handelt, wird dadurch erst authentisch.

Für Führungskräfte ebenso wie in der Selbstführung liegt in der Bedeutung von Authentizität noch ein weiterer ganz konkreter Ansatz verborgen. In seinem (einmaligen) Vorkommen im Neuen Testament (in Timotheus 2:12), bedeutet das alt-griechische Wort „authenteo” „einer Sache Herr sein”. Im Sinne von „die Macht haben“ – über sich? In den bereits ausgeführten Betrachtungen des Begriffs lässt sich durchaus eine Verbindung zu dieser Übersetzung herstellen. „Seiner selbst Herr sein“, sich zu trauen sich selbst zu kennen und führen, bildet die Grundlage einer authentischen Führungskraft.

Zusätzliche Literatur

  • Kernis, Michael H. & Brian M. Goldman: A multicomponent conceptualization of authenticity: theory and research, Advances in Experimental Social Psychology, Volume 38, 2006
  • Moshé Feldenkrais: Bewusstheit durch Bewegung. Suhrkamp, 1968

Über den Autor

Dr. Fabian Urban ist promovierter Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftler, systemischer Berater und aktiver Ironman-Triathlet. Er promovierte an der Universität Freiburg am Lehrstuhl für Personal- und Organisationsökonomie zum Thema „Emotionen und Führung“.

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