Das fernöstliche Aikido-Prinzip in der Führung
Aikido wurde vom Begründer Morihei Ueshiba in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus zahlreichen alten Kampfkünsten entwickelt. Die Techniken zielen dabei nicht (mehr) auf die Vernichtung des Angreifers hin, sondern nehmen die Angriffsenergie auf und leiten sie friedvoll um. Morihei Ueshiba lehrte seinen Schülern dabei sowohl philosophisch als auch physisch sich mit der Kraft eines Angriffs zu harmonisieren. So wird der Angreifer immobilisiert – ohne aber Schaden zu verursachen oder zuzulassen. Er vermittelte mit dem Aikido eine Philosophie, die die Selbstentwicklung der Menschen und die Zusammenarbeit untereinander förderte. Aikido hält eine Reihe von körperlich erfahrbaren Metaphern bereit für die Anwendung von östlichen Prinzipien auf die Gestaltung unserer sozialen Beziehungen. Und damit auch auf den Führungsprozess.
Aikido als Meta-Fähigkeit
Aikido ist meine Grundmelodie. Ich habe als neunjähriges, viel zu klein geratenes Mädchen mit Aikido begonnen und es seither betrieben. Es hat mich durch meine Kindheit, durch die turbulenten Teenagerjahre, das Erwachsenwerden, meine Jahre im Ausland und viele Veränderungen begleitet. Wahrscheinlich gibt es nichts, dass so konstant an meiner Seite war, wie diese japanische Verteidigungskunst. Und mit ihr die Menschen, mit denen ich trainieren und von denen ich lernen durfte und bis heute darf. Sie haben grundlegend mitgestaltet, wie ich die Welt und die Menschen in ihr sehe und verstehe. Mit diesem Artikel möchte ich deshalb versuchen, die Verbindung herzuleiten, die ich zwischen der Philosophie des Aikido und dem Thema Führung sehe.
Für mich hält Aikido eine Reihe von körperlich erfahrbaren Metaphern bereit für die Anwendung von fernöstlichen Prinzipien auf unsere sozialen Beziehungen. Und damit auch auf den Führungsprozess. Damit meine ich, dass das Ausüben von Aikido eine körperlich erlebbare Erfahrung von philosophischen Prinzipien anbietet. Diese kann ich zwar naturgemäß in diesem Text nicht physisch vermitteln, aber wenigstens kognitiv zugänglich machen. Neben den kognitiven Erkenntnissen und Inspirationen hoffe ich mit diesem Beitrag zugleich ein warmherziges Plädoyer für das Ausprobieren, Trainieren und Erlernen östlicher Bewegungskünste zu liefern.
Ich werde im Folgenden „mein“ Aikido aufzeigen, wie ich es in 25 Jahren Aikidotraining begreifen gelernt habe. In den drei sehr unterschiedlichen Varianten Tendoryu mit Shimizu Sensei, Aikikai mit Asai Sensei & Iwama mit Saito Sensei. Ich lade euch daher ein, beim Lesen nicht nach den Andersartigkeiten, sondern vor allem nach den Parallelen zu eurem eigenen Verständnis Ausschau zu halten.
Harmonie statt Antagonie
„Einen Gegner zu verletzten bedeutet sich selbst zu verletzten.“ (Morihei Ueshiba)
Wir Europäer neigen dazu, die „fernöstliche“ Perspektive auf das Leben, oder auch wie in diesem Falle auf Führung, zwar sehr inspirierend aber zumeist wenig praktisch zu finden. Weil es hier in unseren westlichen Gefilden nicht anwendbar scheint und weil wir halt anders ticken. Das tun wir auch – wie die folgenden einfachen Beispiele aufzeigen. In der westlichen Hemisphäre lernen wir zum Beispiel früh in unseren beruflichen Karrieren, in Teamkontexten den „Advocatus Diaboli“ zu spielen oder in Projekten „den Prozess zu challengen“. Beides enthält eine konfrontative, antagonistische Konnotation, die wir in unseren westlichen Denkweisen als belebend und konstruktiv empfinden. Die uns vermittelten fernöstliche Ansätze hingegen betonen immer die Harmonie und verlangen von uns, nicht gegen sondern mit der Energie eines Prozesses zu gehen und mit ihr zu harmonieren.
Diese Vorgehensweise fällt uns „im Westen“ nicht besonders leicht, wie zum Beispiel unsere Maxime des schnellen Handelns verdeutlicht. Unser verkürztes „Auf die Plätze, los!“ – ganz ohne „Fertig!“. Und am liebsten in turbulenten Zeiten gleich nur „Los!“. Während im westlichen Denken diese starke Tendenz zum schnellen Handeln besteht, würde man wohl das östliche Denken am ehesten beschreiben mit: „Auf die Plätze, Fertig, Fertig, Fertig… Fertig, Los!“.
Die Herausforderung dabei ist, dass aus unserer eher konfrontativen Herangehensweise in der Gestaltung sozialer Interaktion oft ein Szenario der latenten gegenseitigen Angriffe resultiert. Dabei sind unsere instinktiven menschlichen Reaktionen auf Bedrohungen zumeist entweder das „Erstarren vor Angst“ oder das „Angriff die beste Verteidigung“-Prinzip (= fight, flight or freeze). Erstarren ist gefährlich für das Selbst, weil es sich nicht schützen kann. Während der Angriff stark eskalierend ist und so ebenfalls das Risiko eines Schadens für uns selbst und das Gegenüber erhöht.
Was uns Aikido vermitteln kann
„Der Weg des Kriegers besteht darin Harmonie herzustellen.“ (Morihei Ueshiba)
Wir alle kennen das: Immer, wenn wir in persönlichen oder geschäftlichen Beziehungen versuchen, Meinungsverschiedenheiten mit einer Gewinn-versus-Verlust-Mentalität zu lösen, wird jemand verletzt. Oder er wird frustriert und wahrscheinlich auf eine Retourkutsche aus sein. Diese oft gemachte Erfahrung bildet keine solide Grundlage für eine positive soziale Interaktion. Wurde so eine Spirale erst einmal gestartet, ist sie schwer zu durchbrechen.
In den fernöstlichen Kulturen hingegen werden Meinungsverschiedenheiten mit einer Harmonieherstellenden Win-Win-Haltung angegangen. Es geht darum Wege zu finden, die beiden Parteien ermöglichen, das zu erlangen, was sie wollen. Die Win-Win-Perspektive wird zwar auch im Westen seit Jahrzehnten gelehrt, und viele Menschen verstehen das Konzept zwar auf mentaler Ebene, uns fehlt jedoch die Übung. Oft können wir uns für unseren konkreten Fall eine solche ehrliche Win-Win-Situation nicht vorstellen und deswegen auch nicht wirklich auf harmonische Weise erschaffen.
Da wo man Konfrontation und Herausforderung als westliche Denkweisen bezeichnen würde und Harmonisierung und Verschmelzung die fernöstlichen Denkweisen repräsentieren, vermittelt Aikido in meinen Augen ganz physisch erfahrbar andere Wege, um soziale Interaktion auf neue, für uns Europäer zunächst kontraintuitive Weise zu gestalten. Es lohnt sich in fernöstlichen, philosophie-getragenen Bewegungskünsten neue Impulse zu holen, wenn wir den Veränderungen unserer Zeit gerechter werden wollen und ins Stocken geratene Prozesse (ob Projekte, soziale Beziehungen, Veränderungen oder Teams) wieder ins Laufen bringen wollen. Und dafür müssen wir nicht mal unsere eigenen erprobten Sichtweisen über Bord werfen. Dazu später mehr.
Herkunft: Die geheime Kampfkunst der Samurai
„Aikido ist nicht nur eine Kampfkunst. Es ist auch eine Kunst, die den Frieden fördert.“ (Morihei Ueshiba)
Aikido wurde vom Begründer Morihei Ueshiba (1883 – 1969) in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus zahlreichen alten Kampfkünsten entwickelt. Aus Kampf- und Schwerttechniken der Samurai, Fallübungen ähnlich denen des Judo, Hebeltechniken und Würfe, ähnlich denen des Jiu-Jitsu und auch Elemente des Kampfes mit Lanze und Bajonett. Es entstand in einer Zeit, zu der in Japan Krieg herrschte. Es einfachen Leuten und Bauern verboten war Waffen zu besitzen. In dieser Zeit konnte man sich bestenfalls mit den bloßen Händen verteidigen. Die eigentlichen Wurzeln des Aikido liegen allerdings im jahrhundertealten Daito-Ryu-Aiki-Jujutsu der Samurai. Das Daito-Ryu war jahrhundertelang geheim und wurde selbst innerhalb der Samurai-Clans nur an höchste Mitglieder weitergegeben.
Ziel: Zu lernen wie man überlebt
„Ich unterrichte euch nicht eine Kampfkunsttechnik, ich unterrichte euch Gewaltlosigkeit.“ (Morihei Ueshiba)
Aikido ist zwar schon lange keine Schlachtfeld-Kampfkunst mehr, aber das Ziel des Trainings ist immer noch das Gleiche: zu lernen wie man überlebt. Die Techniken zielen dabei nicht (mehr) auf die Vernichtung des Angreifers ab, sondern nehmen die Angriffsenergie auf und leiten sie um, so dass sie sich schliesslich gegen den Angreifer selbst richtet, indem er aus dem Gleichgewicht gerät und als logische Konsequenz zu Boden geht. Darin liegt ein sehr wichtiges Element des Aikido verborgen: die Auflösung der Verliererrolle der unterlegenen Partei, um Vergeltung hinfällig zu machen. Indem er durch seine innere Einstellung Gnade walten lässt, macht der Aikidoka eine Lösung des Konflikts möglich. Der Angreifer kann zur Erkenntnis gelangen, dass ihm das Geschenk des Überlebens zuteil geworden ist und jeglicher weitere Angriff nutzlos ist.
Aikido-Techniken: Das Innen durch das Außen trainieren
„Wenn man sich bewegt, werden Techniken geboren“ (Morihei Ueshiba)
Aikido besteht zum Einen aus sogenannten „inneren Formen“, den philosophischen Prinzipien wie Ki, Aiki, Kokyū, Hara, Zanshin, die ich im Folgenden noch erkläre. Bekannter sind natürlich seine äußeren Formen, den Übungsabläufen, den sogenannten Techniken. Erst beide – die inneren und die äußeren – Formen zusammen bilden Aikido. Im Aikido-Training dienen die äußeren Formen (also die Übungstechniken) als Mittel, um die inneren Formen (also die philosophischen Prinzipien) zu erfahren, zu lernen und auszubilden. Es gibt waffenlose Techniken und Techniken mit Schwert oder Stock.
Die große Vielfalt der Aikidobewegungen basiert eigentlich auf wenigen Grundtechniken: es gibt fünf Haltetechniken und acht Wurftechniken. Diese können in jeweils (mindestens) zwei verschiedenen Formen ausgeführt. Und sie können mit ca. 30 kodifizierten Angriffsformen verbunden werden. Sie sind alle frei miteinander kombinierbar. Je fortgeschrittener der Aikidoka um so freier werden seine Techniken – oder wie Ueshiba Morihei sagte: „Wenn man sich bewegt, werden Techniken geboren“. (Damit es an dieser Stelle nicht so abstrakt bleibt, empfehle ich dieses Video einer Aikidovorführung in Slow-Motion anzuschauen.)
Eine Investition in die Entwicklung des Selbst
„Trete durch die Form ein, und trete aus der Form heraus.“ (Altes japanisches Sprichwort)
Das typische Aikidotraining besteht hauptsächlich aus dem sogenannten Kata-Geiko, dem Üben der äußeren Formen. Die Rollen von Angreifer und Verteidiger sind hierbei vorab festgelegt. Auch die Art des Angriffs und die Verteidigung sind im Training zunächst vorgegeben werden. Als fortgeschrittener Aikidoka beginnt man aber, sich von der vorgegebenen Form zu lösen; im freien Üben sind Angriff und Verteidigung schließlich nicht mehr vorgeschrieben. Später kann können Aikidokas die Rollenaufteilung in Verteidiger (Uke) und Angreifer (Nage) gemeinsam überwinden. Es folgt damit dem japanischen Sprichwort: „Trete durch die Form ein, und trete aus der Form heraus.“ Das heißt, der Aikidoka beginnt, zunächst die sehr starren Formen sehr penibel auszuführen (= durch die Form eintreten) aber schließlich in den eigenen Bewegungen frei zu werden. Er wird nicht mehr über den einzelnen Schritt nachdenken.
Die Prinzipien der Bewegungsabläufe haben sich in seinem Muskelgedächtnis und schliesslich im Unterbewusstsein festigen können. Je besser er die Technik in sich verkörpert hat, um so fließender und der Situation angemessener kann er sie ausführen (= aus der Form heraustreten). Das regelmäßige Trainieren fördert durch die komplexen Bewegungsabläufe die Koordination, sowie die Konzentration und das innere Empfinden. Das führt zu einer ganz besonders bewussten Verschmelzung von Geist und Körper.
Philosophie: Der Weg der Harmonie mit der Energie des Universums
„Wenn du angegriffen wirst, schließe deinen Gegner ins Herz.“ (Morihei Ueshiba)
Der Begriff Aikido besteht aus diesen drei Silben: Ai 合 = Harmonie, Ki 氣 = Lebensenergie, Do 道 = Lebensweg. Wobei diese Übersetzungen nicht eindeutig sind und eine direkte Zusammensetzung der Worte (wie hier in der Überschrift) eigentlich nicht zielführend ist. Ein Satz wie „Aikido ist der Weg, wie wir uns in Harmonie mit der Lebensenergie verbinden, die jeder Sache innewohnt“ beschreibt es wohl eher. Es lässt sich ein Leben lang über die Philosophie von Aikido lernen und sinnieren. Nichts davon wäre jemals abschließend. Im Folgenden möchte ich mal zwei (der vielen) Prinzipien von Aikido genauer vorstellen, die ebenfalls in vielen anderen asiatischen Kampfkünsten und Bewegungskünsten vorkommen: Zanshin und Ki.
Das Prinzip Zanshin: der ausbalancierte Geist
„Wahres Budo dient jedoch nicht einfach dazu, den Gegner zu zerstören. Es ist viel besser, einen Angreifer geistig zu besiegen, so dass er seinen Angriff gerne aufgibt.“ (Ueshiba Morihei)
Zanshin ist ein Konzept, dass in vielen verschiedenen japanischen Kampfkünsten zur Anwendung kommt. Es beschreibt einen körperlichen ebenso wie geistigen Zustand erhöhter Wachsamkeit, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Konzentration. Dabei bezieht es sich – wie alles im Aikido – auf den ganzen Menschen. Das getrennte Betrachten von Körper und Geist ist dem fernöstlichen Denken fremd. Äußerlich zeigt sich Zanshin durch korrekte Haltung, Blickkontrolle, und der korrekte Abstand zum Gegner. Die inneren Aspekte von Zanshin sind Harmonie und Absichtslosigkeit.
Ich finde, Zanshin lässt sich zum Beispiel deutlich bei Speerwerfern beobachten: nach dem Abwurf bleiben sie mit ihrer gesamten mentalen und körperlichen Energie bei dem fliegenden Speer, bis er fest in der Erde steckt. Für den Aikidoka fühlt sich das ganz ähnlich an: er bleibt mit seiner Energie ganz in der Situation mit dem Gegner verbunden. Das bedeutet unter anderem ganz praktisch, dass er seine Angreifer vor unnötigem Schaden zu schützen hat. Nur so können Angreifer als auch Verteidiger aus ihrer Begegnung eine Lehre ziehen. Sie können den Kampf als weisere, friedvollere Menschen verlassen.
Zanshin gilt daher nicht nur in der direkten Kampfsituation, sondern besonders nach einem erfolgreichen Angriff. Der Werfende hält zum Beispiel bei einem Wurf den einen Arm des Fallenden so, dass dieser sicher landen kann und sein Kopf nicht auf den Boden schlägt. Oder der Angreifer wird weich zu Boden geführt und dort in einem kraftvollen Hebel festgehalten. In dieser Haltung bewacht und kontrolliert der Verteidiger den Angreifer so lange, bis keine Bedrohung mehr von ihm ausgeht. Mit kraftvollem Zanshin kann man den Angreifer sogar davon abschrecken, seinen Angriff überhaupt auszuführen oder zu erneuern.
Das Prinzip Ki: die Lebensenergie, die allen Dingen innewohnt
„Das Geheimnis von Aikido liegt nicht darin, wie du deine Füße bewegst, sondern wie du deinen Geist bewegst.“ (Morihei Ueshiba)
Ki versucht Ähnliches zu beschreiben wie das Chinesische Qi oder Chi oder das indische Prana und meint damit so etwas wie „Lebensenergie“. Gemeint ist die Kombination der eigenen geistigen und körperlichen Energie. Nach Auffassung vieler östlicher Kulturen wohnt Ki allem inne, was existiert und geschieht. In einer sich ständig verändernden Wirklichkeit stellt das Ki die einzig konstante Größe dar. Ki darf allerdings nicht als eine stehende, sondern muss als eine fließende Energie begriffen werden. Wer sein Ki und den Fluss seines Ki durch den eigenen Körper durch Entspannung und Anspannung, Bewegung und Ruhe kultiviert, tritt in einen kraftvollen Prozess ein. Der verbindet eine Reihe von körperlichen und geistigen Fähigkeiten bewusst miteinander. Er ist anschließend in der Lage, mentale oder körperliche Herausforderungen zu meistern, die er mit nur einer der beiden Energien niemals im Stande wäre zu tun.
In Japan wird Ki aber auch ganz konventionell in zahlreichen japanischen Ausdrücken verwendet, um „Aufmerksamkeit“, „Energie“ oder „Herz“ auszudrücken. Es gibt zum Beispiel einen Ausdruck, der wörtlich mit „Bitte wende dein Ki an“ übersetzet werden kann: Das ist gleichbedeutend mit „Sei vorsichtig“. Im Aikidotraining erlebt man Ki als die fließende, mentale Steuerung der Körperkraft auf eine besondere Weise, die viel Stärke aber keine Spannung in der Muskulatur erzeugt. Dazu komme ich gleich nochmal zurück.
Die physischen Metaphern des Aikido
„Das einzige was es zu bekämpfen gibt, ist der nach Kampf strebende Geist in uns.“ (Morihei Ueshiba)
Folgende vier Grundlagen des Aikido lassen sich als Metaphern versinnbildlichen und somit auf andere Bereiche des Lebens übertragen: Zentrierung, Energie im Fluss halten, die Energie einer Situation spüren und die Verbindung von Energie.
1. Sich zentrieren
Aikido und viele Kampfkünste lehren, in sich zentriert zu sein. Mit dem Zentrum ist der innere sowohl mentale als auch physische Schwerpunkt gemeint. Körper und Seele werden auch hier nicht getrennt betrachtet. Wenn man gedanklich verwirrt wird oder emotional unruhig, verliert man die Verbindung zum mentalen Zentrum. Damit verliert man den Kontakt auch zum körperlichen Zentrum. Man kommt aus dem Gleichgewicht. Es wird schwer, mit wichtigen emotionalen oder äußerlich bedrohlichen Ereignissen gelassen umzugehen. Die Bedeutung des „Sich-Zentrierens“ basiert auf der Annahme, dass der Ausgang einer Situation entscheidend von ihrem Beginn abhängt.
Das Zentrieren, also das sich-verankern-im-inneren-Zentrum, beinhaltet unter anderem folgende drei Aufgaben zur Koordination von Körper und Geist: a. Einen inneren Punkt fokussieren, b. vollständig entspannen und c. das eigene Gewicht nach unten verlagern.
1.a Körpermitte fokussieren
Das Fokussieren des inneren Punktes bezieht sich auf die Konzentration des Geistes auf einen einzelnen Punkt der Mitte des Körpers. Dieser liegt etwa ein paar Zentimeter unterhalb des Bauchnabels. Der Punkt entspricht in etwa dem Schwerpunkt des Körpers. Durch die Konzentration des Geistes auf den einen Punkt erhöht man die Stabilität seiner Haltung. Man beseitigt mentale Ablenkungen, die die körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigen könnten.
1.b Körpermitte fokussieren
Das vollständige Entspannen bezieht sich auf das ENT-spannen der Muskulatur. Diese Form der Entspannung kann man sich als dynamische Entspannung vorstellen, die sich stark von toter Entspannung im Sinne des „schlaff-werdens“ unterscheidet. Man lernt sich innerlich so aufzurichten und dabei auszubalancieren, dass der eigene Körper möglichst durch sein Knochengerüst und nicht durch Muskelanspannung aufrecht gehalten wird. Diese dynamische Entspannung erzeugt einen Zustand der Reaktionsbereitschaft. Dies ermöglicht eine unmittelbarere und effizientere Nutzung der Energieressourcen des Körpers.
1.c Gewicht nach unten verlagern
Das Gewicht nach unten verlagern ist schließlich eine Folge der geglückten vollständigen Entspannung. Unsere allgegenwärtige Anspannung der Muskulatur führt nämlich dazu, dass die wir unsere Körpermasse nach oben verschieben. Zum Beispiel heben die meisten Menschen die Brust an, wenn sie aufgefordert werden, tief durchzuatmen, indem sie die Schultern und den Oberkörper anspannen. Das Ergebnis ist, dass sich der Schwerpunkt anhebt. Sie Stabilität des Körpers wird verringert und die Reaktionszeit verlangsamt sich. Entspannung hingegen führt dazu, dass die Körpermasse sich nach unten verschiebt. Dies führt zu einer erhöhten Stabilität und bietet daher eine effektivere Grundlage für die Durchführung von Aikidotechniken.
2. Ki fliessen lassen
Auch die Übung Ki-fliessen-lassen dient der Koordination und Kollaboration von Körper und Geist, um auf schwierige Situationen gelassener und zielgerichteter reagieren zu können. Hier geht es darum, Zanshin zu praktizieren, also über den Angriffspunkt hinaus zu denken. Wie schon beim Prinzip von Ki ist auch die Idee des Ki-fliessen-lassens ohne direkte Erfahrung nicht so leicht zu greifen.
Die Grundannahme hier ist, dass unser Geisteszustand unsere Stabilität erheblich beeinflusst, also entweder stärken oder schwächen kann. Eine Grundübung ist zum Beispiel, einen völlig entspannten Arm dennoch unbeugbar zu machen. Der Aikidoka bleibt völlig entspannt und sein Arm fühlt sich weich an, aber keine Ellenbeuge kann selbst von jemandem mit mehr Kraft nicht eingeknickt werden. Paradoxerweise wendet der Aikidoka weniger Energie auf, bleibt aber stärker.
2.a Der Arm als wachsender Ast
Ein mentales Bild, das für diese Übung oft verwendet wird, um dieses Prinzip zu lehren, ist das eines Astes. Sich zu entspannen, zu zentrieren, tief zu atmen und sich den eigenen Arm als einen Ast vorzustellen, der durch das Ende der Fingerspitzen bis zur Wand wächst.
Interessant ist, dass man seine flexible Kraft verliert, sobald man sich auf die Stellen konzentriert, an denen der Trainingspartner einen anfasst, um den Arm zu beugen – meist knickt der Arm dann sofort ein. Wenn man sich aber auf den Fluss der inneren Energie, des Ki, konzentriert und das Bild eines bis zur gegenüberliegenden Wand wachsenden Astes beibehält, wird der Arm leicht und flexibel, aber nicht beugbar. Die Energie, die sich durch die Fingerspitzen aus uns heraus bis zur Wand und darüber hinaus erstreckt, erzeugt eine Kraftleitung, die der Gegner nicht mit roher Muskelkraft beugen kann.
2.b Energie als erweiterte Aufmerksamkeit
Ki bezieht sich also auf den Fluss und die mentale Richtung unserer inneren Ressourcen. Ist unser Ki nicht im Fluss und nicht zielgerichtet, passieren bei der Durchführung einer Aikido-Technik – oder bei jeder anderen Aufgabe im täglichen Leben – meist folgende zwei Dinge: entweder sind wir mit Gedanken nicht im Hier & Jetzt, sondern grübeln über das, was eben war oder malen uns aus was demnächst sein wird. So verringern wir die Effektivität dessen, was wir gerade tun und das führt zu Fehlern oder Unfällen. Oder unser Geist konzentriert sich übermäßig auf einen Teilaspekt der Situation und wird von diesem gefangen. Auch dies verringert die Wirksamkeit und verändert mitunter den Ausgang der Situation negativ.
Ein Aikido-Anfänger richtet zum Beispiel oft die Aufmerksamkeit auf die Stelle, an der ihn der Angreifer festhält, so dass nicht nur sein Arm, sondern auch sein Geist vom Griff des Angreifers gefangen genommen wird. Er beginnt nun in eine direkte körperliche Abwehr gegen diesen Griff zu gehen. Er lenkt seine Aufmerksamkeit von der gesamten Situation ab und schwächt so seine Reaktionsfähigkeit.
3. Das Ki einer Situation spüren
In einem Selbstverteidigungskontext hängt die richtige Reaktion auf einen Angriff von der Art des Angriffs ab. Der Verteidiger muss schnell die Richtung, Geschwindigkeit und Kraft des Angriffs erfassen können, um mit der effektivsten Verteidigung reagieren zu können. Diese Fähigkeit, die Art des Angriffs richtig und schnell wahrzunehmen, ist im Aikido von besonderer Bedeutung. Das Ziel ist ja nicht einfach, der Angriffskraft entgegenzuwirken oder sie zu blockieren, sondern sich als Verteidiger mit der Angriffskraft zu harmonisieren. Sie so umleiten, dass sie niemandem gefährlich wird.
Im Aikido wird die Wahrnehmung des Angriffs als „Erfassen des Ki einer Situation“ verstanden. Diese Fähigkeit hängt stark von einer guten Zentrierung und vom eigenen Ki-fliessen-lassen ab. Man muss sein eigenes Ki über den eigenen Körper hinaus fließen lassen, um das entgegenkommende, angreifende Ki des Anderen erfassen zu können.
3.a Spüren statt sehen
Die Übung dazu sieht so aus, dass sich der Aikidoka mit geschlossenen Augen in den Raum stellt, sich zentriert. Er versucht seine Wahrnehmung und damit sein Ki über seine physischen Grenzen hinaus fließen zu lassen, während sich sein Gegner ihm langsam nähert. Er wird mit etwas Übung spüren, wenn der korrekte Abstand, bzw. die korrekte Nähe des Gegners erreicht ist. Fortgeschrittene Aikidokas führen die gleiche Übung inklusive eines angedeuteten Angriffs des Gegners durch und lernen schließlich – immer noch mit verschlossenen Augen – die angemessene Verteidigung einzuleiten. Nach vielen Jahren des Trainings können Aikidokas sogar Schwertangriffe mit verbundenen Augen nur über das Spüren des Ki einer Situation sicher parieren.
Fehlen die Zentrierung und der Ki-Fluss ist die anschliessende Reaktion schnell falsch fokussiert, meist egozentrisch und damit schwach. Die Reaktionsstrategie wird wahrscheinlich erzwungener und stereotyper sein. So wird auch die Motivation des Angreifers geschwächt und damit auch die daraus resultierende Verteidigung ebenfalls schwach. Eine solche Kampfsituation führt in der Regel auf beiden Seiten zu Schäden. Dass ein schwacher Angriff schlecht für die Verteidigung ist, mag paradox klingen. Aber in dem Moment, wo Angreifer und Verteidiger in direkten Kontakt miteinander treten, verliert die Aufteilung in Angriff und Verteidigung an Bedeutung: beide Partner sind in der Situation ein gleich wichtiger Teil desselben Ganzen.
Dieses Konzept ist sehr typisch für östliche Philosophien: Schon im chinesischen Daoismus wurde gelehrt, dass der Kern jeder Sache immer auch im Gegenüber gefunden werden können und dass immer nur beide Teile – Yin und Yang – zusammen das komplementäre Ganze bilden.
4. Harmonisieren und Führen
Die vierte und letzte physische Metapher schließt sich an die Umsetzung der ersten drei logisch an. Es ist das Harmonisieren, der Akt des Vermischens oder Verbindens des eigenen Ki mit dem Ki des Gegners und dem Fliessen lassen des Ki der Situation. An dieser Stelle wird das Thema Führung im Aikido ganz konkret. Führen wird im Aikido der Prozess des Verschiebens des Ki des Gegenübers genannt, um über dessen Ki die Kontrolle zu erlangen. So erreichen wir das Ziel – die gewaltlose Beendigung des Angriffs. Etwas verkürzt nennen wir das im Aikido „den Angreifer führen“. Das Harmonisieren und Führen bildet das zu erreichende untrennbare Ganze. Hier entfaltet die Kraft und Macht des Verteidigens sein volles Potential, mit dem der Verteidiger auch seinem körperlich stärkeren Gegner einfach überlegen ist.
Wie das funktionieren kann, möchte ich mit einem einfachen Bild erklären. Stellen wir uns einen schweren Sonnenschirmständer mit einem runden Fuß aus schwerem Stein vor. Diesen gegen die Trägheit der Masse über die Terrasse zu schieben oder zerren stellt sich als unmöglich heraus. Was machen wir? Wir greifen den Stil des Sonnenschirms und kippen das Ganze, dass es leicht aus dem Gleichgewicht gerät und von uns entspannt gehalten sehr leicht geführt werden kann. Nun rollen wir es auf dem runden Fuß und große Kraftanstrengung dahin, wo wir es haben wollen.
4.a Zusammenspiel statt Kampf
Das Zusammenspiel aus Angreifer und Verteidiger läuft ähnlich ab. Der Verteidiger leitet eine Bewegung ein, der der Angreifer folgt. Er führt den Angreifer in eine Position, wo dieser das Gleichgewicht leicht verliert. Er folgt nun seinem Gewicht, um es wieder abzufangen. Diesen Fluss, diese Richtung der Energie nutzt der Verteidiger gegen den Angreifer, indem er diesen Prozess, die Richtung, die Energie verstärkt und den Angreifer zu Boden bringt. Er hat „die Energie des Gegners“ für sich genutzt.
Ein Führen des Gegners ohne vorherigen Harmonisierung mit dessen Energie wäre auf Zwang und auf Muskelkraft angewiesen. Der physisch stärkere würde immer überlegen bleiben. Erst die Wechselbeziehung von Zentrieren, das Ki fliessen lassen, das Ki der Situation spüren und sich mit all dem zu harmonisieren lässt wahre Führung zu. Das erlaubt es jedem (noch so kleinen, leichten, muskulär nicht ausgebildeten) Aikidoka, die angreifende Energie gewaltlos zu kontrollieren. Ohne das Gegenüber zu dominieren und damit körperlich oder mental zu schädigen.
Die Aikidotechnik ist also eine Methode zur Förderung der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Handelns, die eine ausgeprägte Sensibilität für das Ki aller Beteiligten erfordert. Oder wie Morihei Ueshiba sagte: „Aikido kultiviert positive Kräfte. Aikido ist keine kontrollierende oder zerstörende Kraft, sondern die Kraft zu lieben, zu helfen und harmonisch zu sein.“
Puzzlesteine aus dem Aikido für eine Führungsphilosophie
„Ich möchte, dass Menschen auf die Stimme des Aikido hören. Nicht, um andere zu korrigieren. Sondern um den eigenen Verstand zu korrigieren.“ (Morihei Ueshiba)
Ich habe euch eingangs eingeladen, beim Lesen nicht nach den Andersartigkeiten, sondern vor allem nach den Parallelen des Aikido zu eurem eigenen Verständnis von Führung Ausschau zu halten. Gerne würde ich zum Abschluss noch aufzeigen, welche Parallelen ich für mich gefunden habe.
1. Entspannen, Spüren und Akzeptieren ist mächtiger als Kämpfen und Widerstand.
Sich harmonisieren bedeutet, die Energien miteinander zu verbinden, so dass sich die klare Aufteilung in Angriff und Verteidigung verschmilzt und sich so ergänzt. Auch Führung und Gefolgschaft ergänzen sich und sollten verschmolzen sein. Wenn sie als getrennte Einheiten betrachtet werden, wird Führung weniger wirksam sein.
2. Aikido geht vom eigenen Zentrum aus.
Das tut Führung auch. Ohne ein geschärftes Bewusstsein über die eigenen Werte, Haltungen und Bedürfnisse werden Führungsbemühungen ebenso wie Aikidotechniken instabil. Wie kann ich mich mit dem Ki meines Gegenübers harmonisieren und es führen, wenn ich nicht in meiner eigenen Mitte zentriert bin? Wie kann ich Andere führen, wenn ich sich nicht über mich selbst im Klaren bin?
3. Nicht jeder sich anbahnende Konflikt muss in einer Konfrontation enden.
Mich zentrieren und mein Ki ausstrecken, indem ich zuhöre, mich mit der Energie der Situation verbinden und die Absichten des anderen wirklich spüren: das kann mir Wege aufzeigen, wie wir beide erreichen, was wir wollen. Wenn ich mich anspanne und defensiv werde, werden Körper und Geist gefangen. Es entsteht ein Kräftemessen, ein Konflikt, der kein gutes Ergebnis liefert. Wenn wir glauben, wir wissen längst, was wir wollen und müssen mit aller Kraft dafür einstehen, indem wir uns den Absichten anderer von vorneherein vehement widersetzen, erzeugen wir oft schon vor der Entstehung einer Situation Reibung in unseren Beziehungen. (Wir kennen alle die „Hammer-Geschichte“ von Paul Watzlawick).
Im Aikido haben wir gelernt, dass der Eingang in eine Situation ihren Ausgang bestimmt. Wir lernen uns darauf einlassen, zunächst die Absichten unserer Mitmenschen zu erspüren und uns zuerst einmal harmonisch mit ihnen bewegen. Dann können wir aus der Harmonisierung heraus die Energien der Anderer umlenken und sie führen, so dass sie uns folgen können. Oder wir können gar eine Lösung finden, in der wir beide bekommen, was wir wollen.
4. Wenn meine Mitarbeiter mir nicht folgen wollen, kann ich sie nicht zwingen.
Denn Gewalt führt zu Widerstand oder Gegengewalt, zu einer Abwärtsspirale, die letztlich beiden schadet. Ich muss auf die Verbindungen zwischen mir als Führung und dem Folgenden achten. Ich darf die Rollen verschmelzen lassen, um die Energie zu erhöhen und die Situation erspürbar und führbar zu machen. Wenn ich mich auf diese Energie und ihre Richtung einstelle, in die sie fließt, und mitschwinge, kann ich von dort die Führung übernehmen. Erspüren lehrt mich auch das korrekte Timing zu finden, mich nicht zu schnell und nicht zu langsam zu bewegen.
Leadership by Aikido?
„Kann es wirklich eine Kampfkunst geben, in der man seinen Angreifer mit einem Lächeln niederschlägt?“ (Morihei Ueshiba)
Aikido IST Führung. Aber gelingende Führung ist mehr als die Anwendung von ein paar Aikidoprinzipien. Vor allem ohne vorherige Erfahrung im Aikido klingen die oben ausgeführten Prinzipien sicherlich inspirierend aber zu abstrakt. Sie können jedoch leicht körperlich erfahrbar gemacht werden. Selbst Anfänger können den deutlichen Unterschied und den Kraftgewinn erleben, wenn sie Körper und Geist miteinander verbinden. Fernöstliche Prinzipien liegen uns dann immer noch nicht näher. Aber wer die sanfte Kraft seines Körpers erlebt, wer erlebt was die Ausführung einfacher Aufgaben wie stabiles, entspanntes Stehen und sich-zentrieren bewirken, wie man Energie entstehen lassen kann, ohne dass wir uns bewegen. Und wie sogar körperlich Unterlegene in Harmonie mit ihrem Umfeld eine überlegene Kraft entwickeln können, kann über seinen Körper zusätzliche Führungsstärke, einen Resonanzraum und eine Führungsressource mehr freigeschalten.
Dich interessiert, wie sich diese Prinzipien ganz konkret und auch ohne Aikido-Background verkörpern lassen und damit im Führungsalltag positiv auf Präsenz und Wirksamkeit einzahlen? All das fliesst auch in unser Leadership & Performance Coaching mit ein. Sprich uns gerne an.
Zusätzliche Literatur
- James G. Clawson & Jonathan Doner, Teaching Leadership through Aikido, Article in Journal of Management Education, May 1996
- Stefan Stenudd, Aikido. Die friedliche Kampfkunst, Arriba Verlag, 1992 Schweden
Über die Autorin
Lena Schiller, 1. Dan (Aikido) und hat 25 Jahren lang drei verschiedene Aikido-Arten trainiert. Sie ist Co-Director des House of Leadership, Politikwissenschaftlerin und Buchautorin und Coach. Sie beschäftigt sich mit Female Leadership und Transformation.
Artikel: Daoist Principles in Leadership
Artikel: Leadership und der Körper
Coaching: Performance & Leadership