Neue Trends in der Weiterbildung – eine Praxisstudie

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Ist Führungskräfteentwicklung noch zeitgemäß?

Über 41 Milliarden gaben Unternehmen in Deutschland 2019 für die Weiterbildung von Mitarbeitern aus (Quelle: IW Köln). Das waren 25% mehr als noch 3 Jahre zuvor. Knapp 20 Prozent davon gingen allein in Maßnahmen zur Entwicklung von Führungskompetenz (Quelle:. Stat. Bundesamt). Die direkten Kosten für die Seminare, Trainer usw. machen davon nur die Hälfte aus. Die zweite Hälfte sind die indirekten Kosten: alle Ausgaben, die durch den Arbeitszeitausfall während der Weiterbildung entstehen. In den letzten Jahren berichteten uns Kunden immer öfter, dass sie diese indirekten Kosten stark senken müssten, aber der Markt darauf kaum Rücksicht nähme. Wir wurden neugierig, mehr darüber herauszufinden, wie dieses Problem gelöst werden kann und welche Ansätze und Formate Unternehmen als zielführend wahrnehmen.

Wie löst ihr das?

Wir fragten in unserem Netzwerk nach: Welche Probleme sollen durch Weiterbildung eurer Talents & Executives gelöst werden? Welche Herausforderungen und Limitierungen zeigen sich bei der Umsetzung? Welche Möglichkeiten und Chancen werden erkennbar? Die intensiven Gespräche und sehr unterschiedlichen Antworten motivierten uns, eine größere qualitative Studie zu diesem Thema durchzuführen.

Wir wollten mehr darüber erfahren, aus welcher Motivation heraus Unternehmen ihre Talente und Führungskräfte entwickeln und welche Probleme sie in der Organisation damit lösen können. Daran schlossen sich die Fragen an, welche Entwicklungsansätze auf diese Problemlösung tatsächlich einzahlen und in welche konkreten Weiterbildungsmaßnahmen die Ansätze für die Mitarbeiter umgesetzt werden. Schließlich interessierte uns noch, inwieweit die Teilnehmer aber auch die HR-Abteilungen mit dem Ergebnis ihrer Maßnahmen zufrieden sind.

Auf der Meta-Ebene wollten wir über die konkreten Antworten hinaus ein Gespür dafür gewinnen, ob die organisationale Weiterbildung von Führungskräften in seiner klassischen Form womöglich zum Ladenhüter avanciert war, und welche Trends und Möglichkeiten der Re-Animation oder der Transformation sich abzeichnen würden.

Ziel der Studie

Wir wollten über unterschiedliche Parameter wie Branche, Größe und Unternehmensalter hinweg einen möglichst breiten Blickwinkel ermöglichen. Dabei ging es uns nicht um eine klare Zuordnung, welches Unternehmen was macht, sondern um sich abzeichnende Trends und ein Big Picture.

Aus der Studie sollen sich Erkenntnisse ableiten lassen, die Unternehmen eine Hilfestellung geben, die Entwicklung von Führungskräften neu auszurichten oder zu ergänzen. Ziel der Studie war daher nicht das Finden einer eindeutigen Antwort, sondern das Aufzeigen der Vielschichtigkeit der Ansätze und Motivationen. Daher haben wir uns bewusst für eine qualitative Studie und gegen einen quantitativen Fragebogen entschieden.

Herangehensweise an die Studie

Wir sprachen entlang von vier Fragen in ca. halbstündigen Interviews mit 50 Experten, die in ihren Unternehmen als Human Ressource Manager, People & Culture Manager oder als Learning & Development Manager den Bereich der Führungskräfteentwicklung verantworten.

  • „Welche aktuellen Herausforderungen löst ihr durch die Weiterbildung eurer Führungskräfte?“
  • „Welche Angebote macht ihr euren Führungskräften im Hinblick auf Format, Inhalt und Ausgestaltung?“
  • „Welchen Problemen begegnet ihr bei der Umsetzung der Weiterbildungsmaßnahmen?“
  • „Ist die etablierte Form der Führungskräfteweiterbildung noch zeitgemäß?“

Ihre Antworten wollten wir in ihrer Vielfalt protokollieren und somit anderen Unternehmen als Inspiration zugänglich machen: Ganz so, als hätten sie nicht mit uns, sondern miteinander über die gestellten Fragen gesprochen.

Mehrwert der Studie

Durch die Verknüpfung der vielfältigen Erfahrungen der Befragten kann die Studie die „Weisheit der Vielen“ abbilden und sichtbar machen. Die Antworten können somit der Zielgruppe für die eigene Einordnung oder als Inspiration und Ausgangspunkt für Reflektion im Unternehmen dienen.

So können interessierte Leser und Experten die Studie nun als Kompass nutzen und die Ansätze ihres Unternehmens mit den vorgestellten Ergebnissen abzugleichen:

  • Wie hätten wir als Organisation auf die genannten Fragen geantwortet?
  • Welche Resonanz erzeugen die Antworten für uns als Organisation?
  • Wie fühlt sich ein nüchterner Blick auf „unsere eigene Realität“ an?
  • Inwieweit können wir die Studie als Steigbügel nutzen, um die Entwicklung unserer Führungskräfte neu auszurichten?

Diese Studie wurde nicht nur mit, sondern für die Entscheider und Manager durchgeführt, die für die Weiterbildung von Talenten und Führungskräften in Unternehmen verantwortlich sind. Gemeinsam mit den Experten wollten wir herausfinden, was sie zur Weiterbildung ihrer Führungskräfte bewegt, auf welche Herausforderungen sie dabei stoßen und wie diese gelöst werden können. Wenn dich diese Fragen auch beschäftigen, dann ist diese Studie für dich!

Über die Autorin

Lena Schiller ist Gründerin, Politikwissenschaftlerin, Buchautorin und Coach. Sie hat den 1. Dan im Aikido und liebt Triathlon. Sie ist Co-Director des House of Leadership und beschäftigt sich mit Transformation, Embodiment und Leadership.

Spielend lernen: Game based learning in Unternehmen

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Spielend lernen? Wir sind hier doch nicht im Kindergarten!

Wer erinnert sich noch ans Eckenrechnen im Matheunterricht? Oder Mini-Lück? Viele von uns schauen wahrscheinlich mit etwas Neid auf die Vielfalt und Vielzahl an digitalen Lernspielen, mit denen Kinder sich heute ihrem Schulstoff spielerisch annähern dürfen. Auch wenn Lernspiele wahrscheinlich schon so lange existieren, wie der Mensch selbst, hat sich in diesem Bereich seit Einzug mobiler Endgeräte in alle Haushalte und (manche) Schulen wirklich viel getan.
Was ursprünglich für den Einsatz bei Kindern und in Schulen entwickelt wurde, hat in den letzten Jahren als Methode zur Weiterbildung und Entwicklung von Fähigkeiten auch in Unternehmen an Bedeutung gewonnen: das Game-based learning.

Was ist Game-based learning?

Game-based Learning ist ein didaktisches Format, das die Vorteile von digitalen Spielen nutzt, um die Lernmotivation, das Engagement und den Ausbau von Fähigkeiten bei Lernenden zu steigern. Und zwar weitreichender als klassisches Lernen das könnte. Damit bietet es auch für Unternehmen eine vielversprechende Alternative zu herkömmlichen Weiterbildungsformaten.

Unterschiedliche Studien haben bereits gezeigt, dass Game-based learning nicht nur dazu beiträgt, die Lernmotivation bei Mitarbeiter:innen zu steigern sondern vor allem auch komplexe Probleme und Konzepte aus der Unternehmenswelt zu vermitteln, die Lernergebnisse und die langfristige Verankerung des Gelernten bei den Mitarbeiter:innen zu verbessern und dabei sogar den Teamgeist zu steigern.

Ist das sowas wie Gamification?

Nicht ganz. Auf den ersten Blick scheinen Serious Games, Gamification und Game-based Learning Synonyme für Spiele-basiertes Lernen zu sein. Sie haben viel gemeinsam, unterscheiden sich allerdings in ihren Ansätzen und Zielen.

Gamification

Gamification macht das Lernen selbst zum Spiel. Bestimmte Spielelemente werden in nicht-spielbezogene Aktivitäten integriert, um sie interessanter und unterhaltsamer zu gestalten. Zum Beispiel das Sammeln von Punkten oder Auszeichnungen oder kleine Zwischenstopps, bei denen Quizze durchgeführt werden, bei denen es etwas zu gewinnen gibt. Gamification kann in verschiedenen Bereichen eingesetzt werden, wie z.B. Marketing, Bildung oder im Arbeitsplatzmanagement. Das Ziel ist es, das Engagement und die Motivation der Benutzer zu steigern und sie dazu zu bringen, bestimmte Verhaltensweisen auszuführen oder bestimmte Ziele zu erreichen. Payback-Punkte sind hierfür wohl das bekannteste Beispiel oder die Sprachlern-App duolingo.

Game-based learning

Game-based learning hingegen beschreibt Spiele, die als Werkzeug eingesetzt werden, um Lerninhalte zu vermitteln. Diese werden zum Beispiel als kleine Lern-Lektionen oder Anwendungsfallbeispiele in das Spiel eingewoben. Die Spieler diese Inhalte auf spielerische und interaktive Weise verinnerlichen, während er ein komplettes Spiel spielt: mit einem richtigen Start, klassischen Spielloops, der Möglichkeit zu verlieren und einem klaren Spielende und der Möglichkeit zu gewinnen. Ein gutes Beispiel hierfür sind Escape-Games, die den Spielenden die Grundlagen von IT-Sicherheit oder Datenschutz vermitteln und online ebenso wie offline gespielt werden können.

Serious Games

Serious Games sind Spiele oder spielähnliche Systeme, die mit Spieltechnologie und Spieldesignprinzipien zu einem anderen Zweck als der reinen Unterhaltung entwickelt wurden. Die Spieler sollen durch das Spielen der Serious Games etwas lernen: zum Beispiel dadurch, dass ein Shooter oder Strategiespiel in den Kontext des zweiten Weltkriegs gesetzt wird und historisches Wissen über diese Zeit vermittelt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Brettspiel Weimar, bei dem die Spielenden in die Rollen der vier Parteien der Weimarer Reublik schlüpfen. Serious Games haben also einen zusätzlichen inneren Wert, der in die Spielmechanik, die Erzählung und das Design eingebettet ist. Das unterscheidet sie von reinen Unterhaltungsspielen.

Beispiele für Game-based learning

Das wohl bekannteste Beispiel ist die Verwendung von GBL in der Schulung von Pilot:innen. Pilot:innen können durch die Verwendung von Flugsimulatoren ihre Fähigkeiten verbessern und ihre Erfahrung in einer sicheren und kontrollierten Umgebung erweitern. Aber es gibt viele kleine, einfachere, digitale Anwendungen, die einen hohen Lerneffekt haben.

Minecraft Education Edition

Minecraft Education Edition ist eine speziell für den Bildungsbereich entwickelte Version des beliebten Videospiels „Minecraft“. Es bietet eine Vielzahl von Lern- und Lehrwerkzeugen für Schulen aber auch in der beruflichen Weiterbildung, um das Verständnis für Mathematik, Naturwissenschaften, Sprachen, Projektmanagement und mehr zu fördern.

CodeCombat

CodeCombat ist ein Online-Spiel, das Kindern und Jugendlichen beibringt, wie man programmiert. Das Spiel ist auf unterhaltsame Weise gestaltet, so dass Kinder durch das Lösen von Rätseln und das Absolvieren von Aufgaben lernen, wie man Code schreibt.

SimCity

SimCity ist der bekannteste Städtebau-Simulator, der als Serious Game verwendet werden kann, um Wirtschafts- und Managementfähigkeiten zu verbessern. Es bietet eine Vielzahl von Szenarien und Herausforderungen, die es den Benutzern ermöglichen, ihre Fähigkeiten der Städteplanung und des -managements zu trainieren.

Foldit

Foldit ist ein Online-Spiel, das es den Benutzern ermöglicht, dreidimensionale Proteinmoleküle zu manipulieren und zu falten. Das Spiel wird als Serious Game verwendet, um die wissenschaftliche Forschung im Bereich der Biochemie und Molekularbiologie zu unterstützen.

Anno 2205

Anno 2205 ist ein Aufbauspiel, das als Serious Game verwendet werden kann, um Fähigkeiten im Bereich der Wirtschaft und der Ressourcenverwaltung zu verbessern. Es bietet eine Vielzahl von Szenarien und Herausforderungen, die es den Benutzern ermöglichen, ihre Fähigkeiten im Management zu verbessern.

Game-based learning für mehr Motivation

In ihrer Studie „Enhancing motivation in workplace training with casual games“ untersuchten der Game-Experte Karl M. Kapp und seine Kolleg:innen die Auswirkungen von Game-based Learning auf die Lern-Motivation von Mitarbeitern. Die lernenden Mitarbeiter wurden in zwei Gruppen unterteilt: eine durchlief ein Selbstlern-Programm auf einer Plattform, die sie nach jedem Einloggen zu einem kleinen Spiel herausforderte. Eine Kontrollgruppe durchlief das gleiche Lern-Programm allerdings ganz ohne Spiele.

Die Studie ergab, dass die Mitarbeiter:innen, die zwischendurch auf der Plattform Games spielten, sich häufiger einloggten und in den eingebauten Lernüberprüfungen deutlich besser abschnitten als die Kontrollgruppe. Daraus leiteten die Forscher ab, dass richtige Spielelemente im Lernprozess die Motivation der Mitarbeiter:innen erhöht und dazu beiträgt, dass ihre Kenntnisse und Fähigkeiten sich verbessern. In seinem Artikel „Gamification: Separating Fact From Fiction“ erläutert Karl M. Kapp den Grund für den Motivationsschub: Games sind nicht nur interaktiv sondern bieten den Spieler:innen ein hohes Maß an Kontrolle, Flexibilität und Autonomie. Sind diese Zustände erst einmal aktiviert, werden sie auf die darauffolgenden Aktivitäten – in diesem Fall auf das Lernen – übertragen.

Game-based learning für mehr Praxisnähe

Games mit klassischen Elementen eines Videospiels können außerdem ein praxisnahes Lernumfeld schaffen. Damit werden die Lerninhalte aufgewertet und ihre spätere Anwendung im Beruf vereinfacht.

Der Game-Experte Nikolaus Staudacher ergänzt in seinem Artikel „Digitale Spiele und ihr Potenzial als Bildungs- und Lernräume“, dass GBL auch eine Möglichkeit bietet, komplexe Probleme und Konzepte zu vermitteln. Videospiele können vielschichtige Szenarien und Situationen durch Storytelling gut simulieren. Dies ermöglicht den Spielenden, umfassende Konzepte zu verstehen und praxisnahe Probleme experimentell zu lösen. So können sie im Spiel ihre Fähigkeiten zunächst in einer sicheren und kontrollierten Umgebung verbessern, bevor sie sie in der realen Arbeitsumgebung anwenden.

Er schreibt zusammenfassend: „BefürworterInnen des Game-Based Learnings sehen in digitalen (Lern-)Spielen eine vielversprechende Form des aktiven, selbstgesteuerten, konstruktiven und situierten Lernens, das einen Paradigmenwechsel von traditionellen und eher passiv ausgerichteten Lernformen, in denen das reine Verstehen und Speichern im Vordergrund stehen, einleiten könnte. Denn im Gegensatz dazu ist spielbasiertes Lernen mit intrinsischer Motivation verbunden und regt strategisches Denken in einem Kontext an, wo Problemlösungen mit verschiedenen Handlungsalternativen gekoppelt sind und das Durchdenken und Erkunden komplexer Situationen vorausgesetzt werden.

Warum sich Game-based learning für Unternehmen lohnt

Viele Games bieten neben den oben genannten Vorteilen für die Lernenden auch den Unternehmen die Möglichkeit, einige Aspekte ihre Weiterbildung zu verbessern – und damit die Effizienz und den Effekt ihrer Maßnahmen zu erhöhen: Spielende können in einer realitätsnahen und dennoch von der Realität abgegrenzten Umgebung ein immersives Lernerlebnis erfahren.

Durch das Spielen werden neben der Vermittlung von Wissen grundlegende Fähigkeiten für gelingende Zusammenarbeit und Führung vermittelt.

Kognitive Kompetenzen wie Konzentration, Abstraktion, logisches Schlussfolgern, Gedächtnis, Problemlösung, Informationsverarbeitung, strategisches Planen werden aktiv ausgeübt und somit nachhaltig verbessert. Das Gleiche gilt für die Sozialkompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit, Konfliktlösung, Empathie, Zusammenarbeit, Interaktion und persönlichkeitsbezogene Kompetenzen wie kritische Reflexion, Einfluss von Charaktereigenschaften, Auseinandersetzung mit Identität und emotionale Selbstkontrolle, Frustrationstoleranz und Selbstbewusstsein.

Damit hat Spielbasiertes Lernen einen ausgewiesenen Vorteil gegenüber klassischer Weiterbildung. Außerdem beinhalten digitale Lernspiele meist die Möglichkeit, den Fortschritt der Mitarbeiterinnen zu verfolgen – direkt oder anonymisiert. Die Anwendungen enthalten zudem meist direkte Feedback- und Bewertungsmöglichkeiten, die es den Unternehmen ermöglichen, Rückmeldung zu den Lerninhalten zu erhalten. Diese Funktionen helfen den Unternehmen dabei festzustellen, welche Themen in der Weiterbildung fokussiert oder intensiviert werden müssen.

Ein Vorteil, der besonders ein erstmaliges Austesten von Game-based learning für Unternehmen erleichtert, ist der niedrige Preis und der zusätzliche Kosteneffekt. Denn in Unternehmen ist Weiterbildung nicht nur mit hohen direkten Kosten verbunden, sondern auch die indirekte Kosten, die durch Arbeitszeitausfall entstehen, sind immens. Durch die Verwendung von Games-based learning können Unternehmen die Schulungszeit reduzieren, dabei die gleichen Ergebnisse erzielen.

Hürden bei der Einführung von Game-based learning

Es gibt natürlich auch Herausforderungen bei der Implementierung von Game-based learning in Unternehmen. Eine der Herausforderungen ist die derzeit noch geringe Verfügbarkeit wirklich geeigneter Game-Anwendungen für den Arbeitskontext. Unternehmen müssen sicherstellen, dass die Anwendungen, die sie verwenden, die Fähigkeiten und Kenntnisse wirklich angemessen vermitteln, richtige Game-Elemente enthalten und die gesteckten Lernziele erreichen können. Außerdem gilt es darauf zu achten, dass keine aufwendige Schulung für die Nutzung des digitalen Spiels notwendig ist, sondern dieses intuitiv nutzbar ist.

Sicherlich gibt es auch Bedenken hinsichtlich der Akzeptanz. Einige Mitarbeiter könnten eine Weiterbildung im Spielformat als unwichtig oder unprofessionell empfinden. Es kann auch schwierig sein, Mitarbeiter mit weniger Erfahrung mit digitalen Technologien zu überzeugen. Einige Kritiker befürchten außerdem, dass Spiele im Arbeitsumfeld zu Ablenkungen führen können und die Produktivität sinkt.

Woran ein gutes digitales Lernspiel zu erkennen ist

Es gibt fünf Hauptfaktoren von Spielen, die wesentlich für das Design von Anwendungen im Game-based learning betrachten.

Der erste Faktor ist die Herausforderung, die ein Spiel bietet. Eine angemessene Herausforderung kann die Spieler:innen motivieren und das Lernen unterstützen. Der zweite Faktor ist das Feedback, das den Spieler:innen eine direkte Rückmeldung über ihre Handlungen gibt. Feedback sollte unmittelbar und präzise sein, um effektiv zu sein.

Faktor drei ist die Belohnung, die Spieler:innen für ihre Leistung erhalten. Belohnungen können unterschiedlich gestaltet sein und sollten auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Spieler:innen abgestimmt werden. Ein vierter Faktor ist die Interaktion, die Spieler:innen innerhalb des Spiels miteinander oder mit einem imaginären Spielpartner haben. Eine kooperative oder wettbewerbsorientierte Interaktion kann das Lernen unterstützen und die Zusammenarbeit fördern.

Der letzte Faktor ist die Immersion, die die Spieler:innen in die Spielwelt eintauchen lässt. Eine immersive Spielwelt kann das Lernen fördern, indem sie eine realistische Umgebung schafft, in der die Spielerinnen ihre Fähigkeiten anwenden können.

Zusätzliche Literatur

https://www.chaostheorygames.com/blog/serious-games-guide-everything-you-need-to-know-in-2021 – Serious Games Guide: Everything you need to know in 2021 by Nico King
Yen-Ru Shi and Ju-Ling Shih, Game Factors and Game-Based Learning Design Model, Hindawi Publishing Corporation
Karl M. Kapp, Enhancing motivation in workplace training with casual games: a twelve month field study of retail employees
Karl M. Kapp, Gamification: Separating Fact From Fiction
Nikolaus Staudacher, Digitale Spiele und ihr Potenzial als Bildungs- und Lernräume

Über die Autorin

Lena Schiller ist Gründerin, Politikwissenschaftlerin, Buchautorin und Coach. Sie hat den 1. Dan im Aikido und liebt Triathlon. Sie ist Co-Director des House of Leadership und beschäftigt sich mit Transformation, Embodiment und Leadership.

Talent Development Workshop

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Talent Development Workshop

Ihr wollt die Entwicklung eurer (angehenden) Führungskräfte neu aufstellen –vielleicht sogar ohne externe Anbieter? Ihr fragt euch, welche Möglichkeiten ihr habt, was wirklich zu euch passt und zukunftsorientiert ist?

In diesem gemeinsamen Workshop erarbeiten wir mit euch durch einen strukturierten Prozess, wie ein Weiterbildungskonzept, das ihr intern im Unternehmen abbildet, aussehen kann, das eure Werte und Ziele widerspiegelt. Dabei moderieren wir nicht nur, sondern können vielfältige Impulse, Beispiele und Erfahrungen mitbringen, die euch inspirieren.

Workshop für mehr Klarheit und Inspiration im Talent Development

In Zeiten von Fachkräftemangel und hoher Wechselbereitschaft bei den Mitarbeitern hat eine zielgerichtete Entwicklung der eigenen Führungskräfte in immer mehr Unternehmen eine existentielle Bedeutung. Doch wie entsteht eine gemeinsame, starke Führungskultur und was könnt ihr tun, damit alle eure Führungskräfte sie mittragen?

Besonders in wachsenden Unternehmen mit wachsenden Führungsteams bietet es sich für euch nicht an, die Weiterbildung an externe Partner outzusourcen, da die Grundlage für die gemeinsame Kultur und für ein gemeinsames Verständnis von Führung aus eurem eignen Führungsteam kommen muss.

Doch wie stellt ihr ein gelingendes, internes Talent Development nachhaltig und zukunftsorientiert auf? Womit wollt ihr beginnen und wie sorgt ihr dafür, dass das Unternehmen mit seiner Philosophie und seinen Werten sich in euren Ansätzen widerspiegelt?

Angebot

#Prozess

Wir starten mit euch – entlang des guten alten ergebnisoffenen Design-Thinking-Prozesses – bei eurer Ausgangssituation, und betrachten gemeinsam eure Erfahrungen, Bedarfe und Ziele. Über einen intensiven Prozess der Ideensammlung, den wir mit Beispielen, Impulsen und spannenden Fragen anreichern, kommt ihr zu einem konkreten, praxisnahen, umsetzbaren Konzept: so kann euer Talent Development-Ansatz aussehen, der zu eurem Unternehmen passt.

#Inspiration

#Ergebnis

Der Prozess ist ergebnisoffen aber stark ergebnisfokussiert. Unsere Moderation und hilft euch, mit euren Erfahrungen und Ideen zu einer neuen Klarheit, einem übergeordneten Ziel mit dem richtigen Fokus und einem konkreten Konzept zu kommen. Damit könnt ihr sofort loslegen und die Umsetzung für ein Talent Development beginnen, das zu euch, euren Herausforderungen und euren Talenten passt.

Details

Dauer des Workshops

Wir empfehlen den Workshop an 2x 0.5 Tagen (am Besten mit einer Nacht dazwischen) stattfinden zu lassen für richtig gute Ergebnisse.

Datum – jederzeit!

Wann ihr wollt! Sprecht uns einfach direkt an und wir melden dann schnell zurück, ob euer Wunschtermin noch frei ist.

Preis

3.900€ zzgl MwSt. inkl. Vor- und Nachbereitung

Klingt gut?

Bei Interesse schreibt ihr einfach schnell eine kurze Nachricht an uns. Dann erstellen wir euch fix ein Angebot und euer Workshop kann losgehen.

Details im Überblick

Preis
3.900€ zzgl. MwSt für 2x 0.5 Tage inkl. Vor- & Nachbereitung

Gruppengröße
1-5

Ort
real bei euch oder virtuell via Zoom/Teams und Mural.co

Interesse?
✉ bei Interesse kurze Mail an uns.

Führungswechsel: die ersten 100 Tage

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Führungswechsel: die ersten 100 Tage

Solange es die Menschheit gibt, gibt es Führung und damit auch Führungswechsel. Gerade antike Erzählungen handeln von kaum etwas anderem als von machtvollen, hinterlistigen, grausamen oder zukunftsweisenden Führungswechsel – oder ihrem Scheitern. Ein besonders eindrucksvolles Werk ist „Der Fürst“ des politischen Philosophen Nicolò Machiavelli, der sich Anfang des 16. Jahrhunderts intensiv mit der Frage beschäftigte, auf welche Weisen man „Oberherrschaft“ erfolgreich erwerben, sie erhalten und zu mehr Größe steigern kann. Machiavelli spricht zunächst von den verschiedenen Fürstentümern und wie man Herrschaft über sie erlangen kann, anschließend schreibt er über die richtige Führung eines Heeres und abschließend über das richtige Verhalten eines Fürsten und welche Eigenschaften ein guter Fürst mitbringen sollte.

Führungswechsel – damals wie heute

Auch wenn es in der heutigen Zeit und in modernen Organisationen nicht um den Thron-Erwerb oder die Herrschaft über Fürstentümer geht. Viele Fragen, die Machiavelli in seinem Werk aufwirft, sind im übertragenen Sinne auch heute noch relevant, wenn man sich in eine neue Führungsposition begibt: hat man es dem Glück, seinen Talenten, einem „Verbrechen“ oder der Liebe seiner „Mitbürger“ zu verdanken, dass man die neue Rolle bekommt? Welches Führungsverhalten ist lobenswert, welches tadelnswert? Ist es besser geliebt oder gefürchtet zu sein? Wieviel Rechtschaffenheit ist zielführend oder bedarf es auch der Täuschung? Wie erlangt man die Achtung seiner Untergebenen? (Es handelt sich hierbei um Machiavellis Wortgebrauch.)

Was seinen Überlegungen und den Führungswechseln in modernen Organisationen gemein ist, ist die Tatsache, dass in den ersten Monaten in ihrer neuen Rolle die meisten Führungskräfte verletzlicher sind: die Übergangsphase zeichnet sich meist durch ein zwischenzeitliches Defizit an Wissen über Abläufe, Zusammenhänge, direkte (neue) Kollegen, Rollen und durch noch nicht gefestigte Beziehungen aus.

Das Potential von Führungswechsel

Bei allem, was theoretisch höchste Priorität hat: Was ist in den ersten 100 Tagen wirklich wichtig, wenn man bedenkt, dass der Tag nur 24 Stunden hat – und der Arbeitstag bestenfalls nur 8 Stunden haben sollte? Welchen Grundstein legt man zuerst? Welche Fehler darf man vermeiden, welche Potentiale gilt es schnell zu entfalten? Wie kann man das berühmte „jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ für alle Beteiligten wirksam nutzen? 

Besonders der letzte Punkt birgt großes Potential: Während Führungswechsel auf allen Ebenen in vielen Unternehmen beinahe zum täglichen Geschäft gehören, gibt es meist wenig Anleitung und Hilfestellung, wie Unternehmen, die Teams oder die Führungskraft selbst diese Zeit zielführend gestalten können. Nicht selten schwankt dann die Haltung aller Betroffenen zwischen „Augen zu und durch“ oder „sich in Ruhe vertraut machen“. Beides verkennt die große Chance, die in einem Führungswechsel steckt, wenn ein neuer Spieler mit viel Energie das Spielfeld betritt und mit einer klaren Ausrichtung beginnt, den Ball zu spielen.

Die eigene Roadmap zum Führungswechsel skizzieren

Die folgende Reflexionsübung soll dir dabei helfen, diese Energie nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, für dich zu erkennen und zu nutzen, deine Zeit und deine Prioritäten gut aufzuteilen und dir im Vorfeld eine Roadmap zu erstellen, die dir besonders in hektischen Zeiten Halt und Hilfestellung gibt. Bitte beachte dabei, dass die Formulierung der „100 Tage“ symbolisch zu verstehen ist. Selbst wenn man schon seit vielen Jahren in einer neuen Führungsrolle ist, gibt es immer die Chance einen Neuanfang einzuläuten.

Gehe die Liste für dich durch und schreibe anschliessend zu jedem Punkt ein paar Stichworte auf, wie du ihn angehst oder angehen willst, oder wieso er für dich in der jetzigen Situation nicht relevant ist. Beachte unbedingt, dass diese Liste keineswegs vollständig ist – ergänze sie um das, was dir selbst wichtig ist.

Intensiviere deinen Lernprozess

  • Sei offen dafür, dass du ungeachtet deiner bisherigen (umfangreichen) Erfahrung und deiner besonderen Verantwortung das Mindset eines Lernenden annimmst und Lernen bzw. regelmäßiges Üben die wichtigste Grundlage für die nächsten Monate bilden sollte.
  • Mache dir einen Plan, was es für dich an dieser Stelle noch zu lernen und zu üben gibt. Schreibe dazu, wie und wo du es lernen und üben kannst und plane Zeiten ein, in denen du diesen Plan umsetzt.
  • Finde heraus, welches die besten Quellen zum Lernen innerhalb des Unternehmens sind und zapfe diese Stellen regelmäßig an.

Positioniere dich sichtbar

  • Was braucht es, damit du für dich im Innen ebenso wie im Außen für die anderen eine klare Zäsur zwischen deiner alten Rolle und deiner neuen Rolle setzen kannst?
  • Welche offensichtlichen Verantwortungen wirst du mit der Rolle übernehmen? Wie kannst du dies bewusst angehen?
  • Welches Fundament brauchst du, damit du Erfolg in deiner Rolle haben kannst? Wie kannst du es dir erschaffen?

Baue dein Team auf

  • Überlege inwieweit die existierende Teamstruktur und/oder Organisationsstruktur auf die erfolgreiche Ausübung deiner Rolle einzahlen. Mache dir auch bewusst, welche Strukturen dir eher im Wege stehen. Welche kannst du verändern und zu welchem Zweck?
  • Überlege wie kurzfristige Ziele und langfristige Ziele ineinandergreifen und baue das Team entsprechen auf, bzw. deine Interaktion mit dem Team. Welche Konflikte könnten zwischen den kurzfristigen und den langfristigen Zielen entstehen?
  • Etabliere einen klaren, vielleicht sogar intensiveren, in jedem Fall für deine Vorgaben eindeutig zielführenden Teamprozess.

Passe deine Strategie an die neue Situation an

  • Sicherlich hast/hattest du im Vorfeld viele Ideen, wie man den Job und die neue Rolle viel besser ausfüllen kann. Lasse diese Ideen für einen Moment los und betrachte deine neue Rolle „von innen“. Wie stellt die Situation sich nun dar?
  • Überlege nun nochmal neu, welche Strategien und Ideen zu deinem neuen Blick auf die Gesamtsituation aus deiner neuen Rolle heraus wirklich passen. Wiederhole die Übung im Laufe der ersten Monate regelmäßig. Sei offen für entsprechende Veränderungen in deinem Vorgehen.

Achte auf Erfolgsmomente und -möglichkeiten

  • Überlege, was typische Fallen in deiner neuen Rolle sind und wie du sie vermeidest.
  • Erstelle eine starke Vision und kommuniziere sie ausführlich und oft.
  • Welche Möglichkeiten für deine Glaubwürdigkeit und Gradlinigkeit bieten sich? Wie kannst du diese nutzen?
  • Es gibt immer ein oder zwei Stellschrauben, mit denen sich der Unternehmenserfolg mit wenig Aufwand verbessern lässt. Welche sind die „Quick Wins“ in deinem Bereich? Wie kannst du sie angehen?

Baue strategische Allianzen auf

  • Wessen Unterstützung ist von besonderer Bedeutung? Wie kannst du diejenigen als Unterstützer gewinnen?
  • Mache dir regelmäßig ein Bild davon (wie eine Mindmap oder ein Spinnennetz aufzeichnen!) wie das informelle Netzwerk um dich herum aufgestellt ist. Wer hat welche informelle Rolle und welche informelle Beziehung zueinander. Benenne es so konkret wie möglich. Leite daraus nochmal sichtbar ab: Wer hat welchen Einfluss und welche Interessen? Wie kann dir das weiterhelfen?

Nutze die „Magic of the Moment“

  • Die Veränderung deiner Rolle bringt Unruhe in dein Umfeld; das muss nicht negativ sein: nutze die Energie und Bewegung aus dieser Unruhe für weitere Veränderungen wie Teamentwicklung und Neuausrichtung in Projekten.
  • Mache dir einen Plan wie du Highperformer aus deinem Team jetzt promotest und ihre Entwicklung förderst.

Halte die Balance

  • Baue dir ein Netzwerk aus Ratgebern auf – innerhalb und außerhalb deines Teams. Hole dir unvoreingenommen ihr Feedback ein und höre vor allem erstmal zu.
  • Durchbreche immer wieder bewusst die schleichende Spirale aus vermeintlich notwendiger permanenter Anwesenheit, eigener Grenzüberschreitung, Energieverlust und die daraus resultierende Abwehrhaltung, zunehmende Voreingenommenheit, Rückzug und Isolation.

Mach den Führungswechsel für dich konkret

  • Bitte beachte: die Roadmap darf leben und sich im Laufe der Zeit noch verändern.
  • Die Liste der Punkte ist keinesfalls vollständig und nicht als „onesize-fits-all“-Schablone gemeint.
  • Sprich mit Menschen, die deinen Weg vor dir bereits gegangen sind und bitte sie um weitere hilfreiche Hinweise.
  • Ergänze Punkte, die dir selbst einfallen unbedingt – auch wenn sie dir selbstverständlich erscheinen. Manchmal verlieren wir Dinge, die uns zuvor selbstverständlich vorkamen und leichtfielen, überraschend schnell aus den Augen, wenn wir eine neue Rolle mit vielen neuen Aufgaben und Verantwortungen übernehmen.

Zusätzliche Literatur

  • Watkins, Michael – The first 90 days, Harvard Business Review Press, 2006

Über den Autor

Dr. Fabian Urban ist promovierter Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftler, systemischer Berater und aktiver Ironman-Triathlet. Er promovierte an der Universität Freiburg am Lehrstuhl für Personal- und Organisationsökonomie zum Thema „Emotionen und Führung“.

Mehr zum Thema

Authentizität: Leadership und Unvoreingenommenheit

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Authentizität: Leadership und Unvoreingenommenheit

„Be yourself; everyone else is taken.“ (Oscar Wilde). Das Wort Authentizität stammt vom griechischen Wort αὐθεντικός (authentikós) ab = echt. Es kann auch auf authenticus (spätlateinisch) zurückgeführt werden = verbürgt, zuverlässig. Als authentisch gilt etwas, wenn unsere Wahrnehmung des unmittelbaren Scheins und die des eigentlichen Seins als übereinstimmend befunden werden. Authentizität hat also unsere Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung zur Grundlage: Wir nehmen uns selbst als authentisch wahr, wenn wir uns gemäß unserem wahren Selbst, also den eigenen Werten, Gedanken, Emotionen, Überzeugungen und Bedürfnissen (= Sein, Innen) ausdrücken. Und wenn wir dementsprechend auch handeln (= Schein, Außen).

Das wahre Selbst im Alltag

Jeder kennt diesen Gedanken, den Udo Lindenberg berühmterweise einmal sang: “Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur so selten dazu.” Ursprünglich stamm der Satz aber vom Schriftsteller Ödön von Horváth.

Oft verbinden wir Authentizität mit Aufrichtigkeit, manchmal sogar mit Schonungslosigkeit: einfach man selbst sein, ohne Rücksicht auf Verluste. Doch Authentizität ist viel mehr als das, deutlich komplexer und oft anstrengend. Gleichzeitig ist sie eine große Ressource und spielt eine entscheidende Rolle dabei, ob und wie wir andere Menschen und unsere Ziele erreichen.

Die beiden amerikanischen Sozialpsychologen Michael H. Kernis und Brian M. Goldman definieren in einem der umfassendsten Texte zum Thema Authentizität ebendiese so: „das ungehinderte Funktionieren des eigenen wahren Selbst im alltäglichen Handeln“. Klingt erstmal sehr allgemeingültig, beinahe trivial. Verkürzt würden wir sagen, dass uns jemand „echt“ vorkommt. Doch wenn wir begründen müssten, woran wir das festmachen, würden wir sicher schnell ins Stocken kommt. Woran machen wir die „Echtheit“ fest? Die Wissenschaftler zeigen nach einer intensiven Reise durch alte und neue philosophische Betrachtungen von Authentizität folgendes auf: es geht um die Frage, inwieweit das „Sein“ eines Menschen sich in seinem Handeln für uns sichtbar widerspiegelt.

Im Alltag verkürzen wir Authentizität manchmal auf den Aspekt der Ehrlichkeit und verkennen dabei wichtige Aspekte dieses komplexen Konzepts. Den laut der Wissenschaftler bildet eine ganz andere Eigenschaft die Grundlage von Authentizität: die nicht-abwehrende Haltung gegenüber Rückmeldungen. Das heißt: wir sind uns also nicht nur unseres Inneren bewusst und handeln entsprechend, sondern wir lassen mit großer Offenheit zu, dass andere uns unsere Außenwirkung spiegeln. Zu dieser Offenheit nach Außen kommt das Vertrauen in eigenen inneren Erfahrungen und die Bereitschaft, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen darauf aufzubauen. Hier wird die ganze Komplexität von Authentizität langsam greifbar.

Die vier Facetten von Authentizität

Als Folge ihrer Beobachtungen schlagen die Wissenschaftler daher vor, Authentizität nicht als einen einheitlichen Prozess des „Ehrlich-seins“ zu betrachten, sondern als ein Zusammenspiel von vier separaten, aber aufeinander bezogene Komponenten zu verstehen: Bewusstsein, unvoreingenommene Wahrnehmung, Kohärenz und aufrichtige Beziehungen. Jede dieser Komponenten konzentriert sich auf einen grundlegenden Aspekt der Authentizität:

  • Bewusstsein: Wir reflektieren uns regelmäßig selbst und kennen infolgedessen unser Inneres: unsere Identität, unsere Gefühle, Stärken und Schwächen, unsere Gedanken. Wir wissen was uns zu bestimmtem Verhalten antreibt und aus welchen Motiven heraus wir handeln. Und wir kennen diese nicht nur, sondern es ist uns möglich, diese im Alltag bewusst wahrzunehmen.
  • Unvoreingenommene Wahrnehmung: Wir erlauben uns einerseits bewusste Selbstwahrnehmung und bleiben urteilsfrei in Bezug auf unsere positiven und negativen Eigenschaften, unsere Emotionen, Erfahrungen usw. Dies gilt auch in Bezug auf Rückmeldungen zur Fremdwahrnehmung, der wir zunächst unvoreingenommen begegnen. Wir wehren sie nicht ab oder verzerren sie nicht.
  • Kohärenz: Wir verhalten uns als logische Konsequenz zu den ersten beiden Voraussetzungen im Einklang mit den eigenen Werten, Bedürfnissen, Motiven. Und wir sind dabei weitestgehend unberührt davon, ob wir dafür im Außen Anerkennung oder Ablehnung erwarten können.
  • Aufrichtige Beziehungen: In Beziehungen zu unseren Mitmenschen sind wir „wir Selbst“. Das beinhaltet Wertschätzung und das Streben nach Offenheit, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit in der Gestaltung von engeren Beziehungen. Es geht uns darum, anderen zu ermöglichen uns zu sehen. Auf diese Weise können andere mit uns in eine Beziehung treten, die gegenseitige Authentizität und die Übereinstimmung von Selbst- und Fremdwahrnehmung erhöht.

Warum Authentizität schwer ist

Die verschiedenen Komponenten von Authentizität klingen für die meisten von uns nachvollziehbar. Vielleicht können wir es sogar handlungsleitend verstehen und direkt umsetzen, um uns selbst als authentisch(er) zu erleben. Wir können uns und unser Verhalten bewusst reflektieren und offen Feedback einholen. Wir können es uns zur Aufgabe machen, dass unser Inneres und unser Handeln übereinstimmend ist. Und wir können unsere Beziehungen darauf aufbauen, wer wir wahrlich sind. Die deutlich spannendere Frage ist sicherlich die anschliessende: warum scheitern (aus unserer Sicht: meist andere) Menschen so oft daran einfach authentisch zu sein? – Natürlich auch wir selbst, auch wenn uns der Gedanke schmerzt.

Die Darstellung ebenso wie die Aufteilung klingen für die meisten von uns naheliegend, nachvollziehbar. Sie haben einen handlungsleitenden Aspekt: was können wir nun tun, um uns selbst als authentisch(er) zu erleben? Aber die deutlich spannendere Frage ist sicherlich die anschliessende: warum scheitern (aus unserer Sicht: meist andere) Menschen so oft daran einfach authentisch zu sein? (Natürlich auch wir selbst.) Ein Teil der Antwort könnte sein, dass unsere Persönlichkeit und unsere Werte sich nicht immer miteinander vereinbaren lassen. Dann wird Authentizität schwierig.

Warum Authentizität nicht immer erwünscht ist

Jemand hat gerade seinen Job oder seinen Partner verloren – teilen wir dann unsere enthusiastischen Erzählungen über unsere Karriere oder unser Liebesglück mit ihm? Meistens nicht, weil sich zu unserer – in diesem Falle mitteilsamen, fröhlichen – Persönlichkeit unsere Werte gesellen – in diesem Falle Rücksichtnahme und Mitgefühl -, die hier in Konflikt miteinander stehen können.

Doch auch unsere wichtigsten Werte können je nach Situation in Konflikt miteinander geraten und unseren Wunsch nach Authentizität herausfordern. Offenheit und Ehrlichkeit gehören zum Wertekanon der meisten Menschen ganz selbstverständlich dazu. Diese Werte intensiv zu leben, wird für viele Menschen mit Authentizität gleichgesetzt. Auch Respekt hat bei vielen Menschen einen hohen Stellenwert, oder verwandte Werte wie Friedfertigkeit oder Harmonie. Nicht immer schaffen wir es, absolut ehrlich unsere Meinung zu sagen und dabei unserem Gegenüber noch respektvoll oder harmonisch zu begegnen. So kann es manchmal wichtiger sein, dass Gesicht seines Gegenübers zu wahren anstatt ihm schonungslos ehrlich auf seine Fehler hinzuweisen. Wie genau können wir in einer solchen Situation noch authentisch sein?

Warum Authentizität manchmal unmöglich ist

Auch die Autoren des Authentizitätstextes geben am Ende dieses Absatzes einen Hinweis, warum wahre Authentizität so schwierig ist:

Insgesamt dokumentiert dieser historische Überblick über die Authentizität eine Vielzahl von mentalen und verhaltensbezogenen Prozessen, die dafür verantwortlich sind, wie Individuen ein zentrales Selbstgefühl entdecken, entwickeln und konstruieren und darüber hinaus. Wie dieses Kern-Selbst im Laufe der Zeit und Situation aufrechterhalten wird. Während verschiedene historische Berichte betonen, dass Authentizität eine Verbindung zwischen Denken und Handeln beinhaltet, legen sie oft auch Wert darauf, ob diese Handlungen innerhalb oder außerhalb des Selbst durch gesellschaftliche Erwartungen, Normen oder Zwänge entstehen.“ Oder kurz: Wer sind wir wirklich wirklich, wenn wir bedenken, dass Anpassung an die Gesellschaft wichtig für unser friedliches Miteinander ist?

Unser voreingenommenes Bild von uns selbst

Dies diskutiert auch Moshé Feldenkrais: ein außergewöhnlicher Wissenschaftler und Begründer einer Körpertherapie. Er veröffentlichte 1968 „Bewusstheit durch Bewegung„. Das handelt vor allem davon, wie wir (wieder) die werden, die wir sind. Auch wenn er es eher auf unsere körperliche Verfassung bezieht, so gilt seine Einleitung dem Menschen als Ganzem. Er schreibt:

Wir handeln dem Bild nach, das wir uns von uns machen. Ich esse, gehe, spreche, denke, beobachte, liebe nach der Art, wie ich mich empfinde. Dieses Ich-Bild, das einer sich von sich macht, ist teils ererbt, teils anerzogen; zu einem dritten Teil kommt es durch Selbsterziehung zustande. […]

Erziehung, wie die Gesellschaft sie bietet, wirkt nach beiden Richtungen zugleich. Durch Strafen und Entzug ihrer Unterstützung unterdrückt sie jede Neigung, die nicht zur Regel gehört und versieht gleichzeitig den Einzelnen mit Wertungen, die ihn zwingen, spontane Bedürfnisse und Wünsche zu überwinden und von sich zu tun. […]

Infolgedessen leben die meisten erwachsenen Menschen hinter einer Maske. Diese Maske ist das Gesicht, das einer vor anderen haben möchte wie vor sich selbst. Damit sie die organische Eigenart des einzelnen nicht verraten, werden eigene Zielsetzungen und spontane Bedürfnisse und Wünsche einer scharfen inneren Kritik unterworfen. Solche Zielsetzungen und Wünsche erzeugen Gewissensbisse und Angst, und darum bemüht sich der einzelne, das Bedürfnis zu unterdrücken, das sie verwirklichen möchte.

Die Kompensation, die ihm sein Leben trotz dieser Opfer lebbar macht, ist die Anerkennung, welche ihm die Gesellschaft je nach seiner Stellung in ihr und nach seinen Leistungen zollt. Der Hunger, von seinen Mitmenschen immer wieder bestätigt zu werden, ist so groß, dass die meisten ein – aber nicht IHR – ganzes Leben damit zubringen ihre Masken zu verstärken. […]

Wichtiger als Authentizität: der Versuch der Unvoreingenommenheit

Das klingt ein wenig deprimierend. Man möge dazu einerseits die Zeit und Kultur bedenken, in der der 1904 in der Ukraine geborene jüdische Feldenkrais aufwuchs. Und andererseits möge man die Fragen, die sich aus seinen Beobachtungen ergeben, zulassen: wie können wir wissen, ob oder wann wir wahrlich wir selbst sind? Was tun wir aktiv, um das herauszufinden?

Wer sich offen darauf einlässt, dass Authentizität Selbstreflexion und Unvoreingenommenheit voraussetzt, wird ein paar spannende Entdeckungen machen. Zum Beispiel: Authentizität bedeutet nicht, immer schonungslos direkt und ehrlich zu seinen Mitmenschen zu sein. Wer zum Beispiel Empathie, Harmonie oder Diskretion als Wert für sich hoch angesiedelt hat, ist nur dann authentisch, wenn er eben diese Werte lebt. Und die stehen in manchen Situationen im klaren Konflikt mit der Idee der schonungslosen Ehrlichkeit. Auch: wer für sich die schmerzhafte Entdeckung zulässt, dass er nicht immer authentisch war und sein will, nicht immer gemäß seines Inneres Seins handelt, wird dadurch erst authentisch.

Für Führungskräfte ebenso wie in der Selbstführung liegt in der Bedeutung von Authentizität noch ein weiterer ganz konkreter Ansatz verborgen. In seinem (einmaligen) Vorkommen im Neuen Testament (in Timotheus 2:12), bedeutet das alt-griechische Wort „authenteo” „einer Sache Herr sein”. Im Sinne von „die Macht haben“ – über sich? In den bereits ausgeführten Betrachtungen des Begriffs lässt sich durchaus eine Verbindung zu dieser Übersetzung herstellen. „Seiner selbst Herr sein“, sich zu trauen sich selbst zu kennen und führen, bildet die Grundlage einer authentischen Führungskraft.

Zusätzliche Literatur

  • Kernis, Michael H. & Brian M. Goldman: A multicomponent conceptualization of authenticity: theory and research, Advances in Experimental Social Psychology, Volume 38, 2006
  • Moshé Feldenkrais: Bewusstheit durch Bewegung. Suhrkamp, 1968

Über den Autor

Dr. Fabian Urban ist promovierter Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftler, systemischer Berater und aktiver Ironman-Triathlet. Er promovierte an der Universität Freiburg am Lehrstuhl für Personal- und Organisationsökonomie zum Thema „Emotionen und Führung“.

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Entscheidungen: tägliche Grundlage von Self-Leadership

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Entscheidungen: tägliche Grundlage von Self-Leadership

Studieren oder Berufsausbildung? Der tolle neue Job in einer fremden Stadt oder hier bleiben, wo man weiß, was man hat? Vom Ersparten ein Abenteurer-Wohnmobil kaufen oder es für schlechte Zeiten zur Seite legen? – Der Punkt, an dem wir heute stehen, ist maßgeblich davon bestimmt, wie wir entscheiden. Wobei wir viele, wenn nicht gar die meisten, Entscheidungen kurzfristig und ohne längeres Nachdenken automatisch treffen. Vielleicht, weil die Fragestellung unbedeutend ist, sich eine längere Beschäftigung nicht lohnt oder weil die Lösung Routine für uns ist. Für gelingende Selbstführung sind hingegen besonders die Situationen spannend, wenn wir uns in einer im Ausgang ungewissen Entscheidungssituation befinden: und wir jetzt bewusst eine Entscheidung treffen müssen. Das erleben wir als anstrengend, kognitiv wie emotional.

Bewusste Entscheidungen

Bewusstes Entscheiden kann anstrengend sein. Obwohl die meisten Menschen sicher sagen würden, dass eine große Wahlfreiheit und bewusstes Entscheiden-dürfen für sie etwas sehr Positives ist. Und selbst wenn uns das viele Entscheiden im Alltag oft leicht fällt und wir sofort und ganz genau wissen, für welche Option wir uns entscheiden werden: wir sind uns meist gar nicht genau bewusst, wie wir entscheiden. Wie läuft der Entscheidungsprozess genau in uns ab? Wenn wir die einschlägigen Wissenschaften danach befragen, finden wir oft lange Ausführungen, die beschreiben, dass (gute) Entscheidungen den Regeln der Logik, den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitstheorie und der Maximierung des erwarteten Nutzens folgen – oder folgen sollte.

Doch wir Menschen wissen längst, dass wir nicht diesen idealen Bildern entsprechen. Wir verfügen einfach nicht über vollständiges Wissen, ein perfektes Gedächtnis und perfekte rechnerische Fähigkeiten. Stattdessen folgen wir beim Entscheiden eher Gewohnheiten und Erfahrungen, Intuitionen, Daumenregeln oder dem Urteil anderer.

Der deutsche Psychologe und ehemalige Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Gerd Gigerenzer hat sich in seinem Buch „Risiko“ intensiv mit dem Treffen richtiger Entscheidungen beschäftigt. Er beschreibt folgende Anekdote: er hat alle Ökonomen in seinem Umfeld, die sich mit den Modellen aus der berühmten rational choice theory beschäftigen, gefragt, wie sie ihre Ehepartner gefunden haben. Bis auf eine Ausnahme hat sich keiner von ihnen bei der Partnerwahl an die von ihnen gelehrte und vertretene Theorie gehalten.

Entscheidungen in der Theorie

Die rational choice theory (oder: Theorie der rationalen Wahl) ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene Ansätze einer Handlungstheorie aus den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Sie besagt vor allem, dass individuelle Handlungen auf rationalen oder vernünftigen Handlungsentscheidungen basieren. Und dass unser Handeln einerseits durch unsere Ziele, Wünsche oder Bedürfnisse bedingt wird, und andererseits durch unseren Versuch, diese Ziele in höchstmöglichem Ausmaß zu erreichen. Eine Handlung wird von uns mit umso größerer Wahrscheinlichkeit begangen, je größer der erwartete persönliche Nutzen für uns ist. Und je geringer die Kosten für unser Handeln sind. Das wohl bekannteste Erklärungsmodell der rationalen Entscheidung ist der klassische homo oeconomicus.

Auf dem Papier ergeben diese Modelle beim ersten Durchlesen viel Sinn. Viele Wissenschaftler und Berater haben daraus auch eine alltagstaugliche Entscheidungspraxis ableiten können, wie man eine gute Entscheidung treffen sollte. In einschlägigen Büchern lesen wir, wie wir zuerst die Situation umreißen sollten: was soll übergeordnet entschieden werden? Dann muss natürlich das Ziel geklärt werden: was soll mit der Entscheidung erreicht werden, bzw. welche Konsequenzen der Entscheidung sind gewünscht? Danach muss man die Entscheidungsoptionen ausformulieren und die für die Entscheidung relevanten Informationen zusammentragen.

So können wir die verschiedenen möglichen Optionen mit Hilfe der zusammengetragenen Informationen und mit Blick auf die Ziele bewerten. Schließlich treffen wir aufgrund unserer Bewertung eine fundierte Entscheidung. Anschließend müssen wir die getroffene Entscheidung natürlich auch konsequent umsetzen, damit sich die Chance erhöht unser zuvor definiertes Ziel zu erreichen. Soweit die Theorie.

Annäherung an Entscheidungen

Klar, jeder von uns hat schon mal eine „Was spricht dafür? – Was spricht dagegen?“ -Liste oder eine Kosten-Nutzen-Abwägung geschrieben. Wahrscheinlich haben wir dabei nicht nur wirtschaftliche, sondern auch emotionale oder soziale Parameter mit einbezogen.

Aber wie skizzieren wir dabei eigentlich genau die möglichen Optionen, zwischen denen wir uns entscheiden? Wie werden sie antizipiert ? Woher kommt unser Wissen über die möglichen Konsequenzen der verschiedenen Entscheidungsoptionen? Prüfen wir überhaupt alle Optionen? Wie priorisieren wir die verschiedenen Werte, die verschiedene Entscheidungsausgänge haben können? Woher wissen wir eigentlich, was wir wirklich wollen? Und woran erkennen wir überhaupt, dass wir uns in einer Entscheidungssituation befinden? Wie setzen wir die Entscheidung in die Tat um? Was beeinflusst, wie wir später auf den Entscheidungsmoment und die gewählte Option zurückblicken?

Jede dieser Fragen ist beinahe ein ganz eigens Forschungsfeld. Und so verwundert es nicht, dass das Thema Entscheidungen sowohl Neurowissenschaftler, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Naturwissenschaftler und Philosophen seit jeher beschäftigt, aber wir Menschen uns im Alltag dem „Wie?“ eher selten und womöglich ungern zuwenden. Doch Entscheidungen sind das wohl grundlegendste Handwerk der Selbstführung.

Entscheidungen in der Praxis

Wir wollen uns im Folgenden daher mal an die Fragen annähern: Wie treffen wir in Wirklichkeit Entscheidungen? Wann ist das gut, wann schlecht? Können wir unser Entscheiden verbessern – und wenn ja, wie?

Wir handeln – und das klingt sehr vernünftig – fast immer auf Basis der uns vorliegenden Informationen. Die sind allerdings meist weder umfassend noch notwendigerweise richtig. Darüber sind wir uns generell auch eigentlich im Klaren: Teile der Informationen können brüchig oder regelrecht falsch sein. Leider wissen wir nicht, welche Info uns fehlt oder welche falsch ist – sonst würden wir diesen Zustand einfach ändern. Um diese Unwissenheit in der Informationslage bei der Entscheidungsfindung zu überwinden, versucht wir nicht selten, uns an den Entscheidungen anderer Menschen zu orientieren. Das tun wir in der Hoffnung, die fehlenden Informationen so auszugleichen und zu einer besseren Entscheidung zu gelangen. Imitation ist ein angeborenes Verhalten, um zu lernen und sich weiterzuentwickeln. 

Der Journalist und Autor des Buches „Wisdom of the Crowd“ James Surowiecki führt das am Beispiel der zwei benachbarten gleich guten, aber leeren Restaurants aus: Nachdem ein erstes Pärchen sich gleichermaßen spontan wie zufällig für eines der Restaurants entschieden hatte, folgten alle Menschen, die mit der identischen Frage konfrontiert waren, diesem ersten Pärchen. Vielleicht kennt ihr das sogar selbst. Dahinter steckt unser feste Glaube daran, dass Menschen sehr rational handeln – obwohl jeder von sich selbst weiß, dass das nicht wirklich stimmt.

Einfach nur mitmachen – statt selbst entscheiden

Wir folgen bei der Restaurant-Entscheidung dennoch einfach den anderen, weil wir davon überzeugt sind, dass diese Menschen über eine wertvolle Information verfügen, die schließlich zu der Entscheidung geführt haben wird, in dieses erste Restaurant zu gehen. Und das, obwohl wir weder die Personen noch den Grund für ihre Entscheidung kennen. Je mehr Menschen in diesem einen aber nicht in diesem anderen Restaurant sitzen, um so überzeugter sind wir: diese Menschen werden ihren Grund gehabt haben und folge ihnen. Die Konsequenz ist dann, dass sich in dem einen Restaurant die Gäste an der Bar aufreihen und auf einen Tisch warten. Während nebenan gähnende Leere herrscht – und keiner weiß warum.

Unter dem bezeichnenden Titel „Gemeinsam sind wir blöd?! Die Intelligenz von Unternehmen, Managern und Märkten“ hat der Soziologe und Systemtheoretiker Fritz B. Simon sehr ausführlich beschreiben, welche verschiedenen Mechanismen dahinter stecken können. Ein solcher Mechanismus, der die berühmte „Schwarmintelligenz“ unter das Niveau der Intelligenz des Einzelnen sinken lassen kann, ist – auf den ersten Blick vielleicht überraschend – soziale Interaktion.

Aufgrund von Unsicherheit bei unvollständiger Information tut wir uns bei der Entscheidungsfindung gerne mit anderen zusammen. Zunächst wird nur miteinander geredet, um fehlende Informationen auszutauschen. Aber schon nach kurzer Zeit beginnen wir, den Wunsch der Zusammengehörigkeit zu entwickeln und ausleben zu wollen. Wir beginnen vermehrt über den Austausch von Information hinaus auf sozialer und emotionaler Ebene miteinander zu interagieren.

Schlecht entscheiden dank Group Think

Erinnert euch an das Fahrstuhl-Beispiel aus dem Bibliotheksbeitrag „Haltung„: wir schwingen uns aufeinander ein. Schließlich beginnen Dynamiken in der Interaktion zu greifen, die nicht mehr dem Informationsaustausch, sondern vor allem der Gruppenbildung dienen. Eine dieser Dynamiken ist Konsens. Das Streben nach Übereinstimmung lässt den Menschen vermehrt auf die gemeinsame Schnittmenge der vorhandenen Meinungen und Informationen fokussieren. So entsteht eine Art kollektives Wissen und kollektives Verständnis einer Problematik und ihrer Lösung in der Gruppe. 

Was in anderen Situationen ein erstrebenswertes Ziel ist, bedeutet hier den Einstieg in einen Teufelskreis, der „Groupthink“ genannt wird. Dieser Begriff wurde 1972 von dem amerikanischen Sozialpsychologen Irving Janis aus der Taufe gehoben. Als berühmte Beispiel für den negativen Effekt von Groupthink werden oft der Nationalsozialismus, der Vietnamkrieg und das Challenger-Unglück angeführt. Was konkret passiert, ist, dass die eigentlich in der Gruppe vorhandene Vielfalt des Wissens in der direkten sozialen Interaktion auf seinen kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert wird.

Die neue soziale Gemeinsamkeit lässt nämlich keinen Platz mehr für das andersartige Nischen- und Zusatzwissen der Einzelnen. Das Wissen mag zwar wertvoll sein, könnte aber zu Diskussion und Dissens führen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir jetzt gemeinsam eine Entscheidung treffen, die unseren Zusammenhalt stärkt, aber nicht auf der Gesamtheit aller eigentlich vorliegenden Informationen basiert, ist nun sehr groß. 

Umgang mit schlechten Entscheidungen

Doch die größere Herausforderung ist nicht die Tatsache eine schlechte Entscheidung getroffen zu haben, sondern unser Umgang damit. Wir neigen dazu, an einer einmal getroffenen Entscheidung sehr lange festzuhalten. Auch dann noch, wenn sich bereits andeutet, dass sie uns nicht zum Ziel bringt und sich bereits erkennbar Verluste als Konsequenz dieser Entscheidung zeigen. Die Wissenschaft bietet den Erklärungsansatz der „Selbstrechtfertigungshypothese“: weil das Eingeständnis einer falsch getroffenen Entscheidung einen (auch körperlich) sehr unangenehmen Spannungszustand auslöst, begeben wir uns lieber in einen komplizierten Rationalisierungsprozess. Mit diesem rechtfertigen wir vor uns selbst, warum die Entscheidung doch richtig oder gut war.

Dazu gesellt sich natürlich oft auch ein Rechtfertigungsdruck gegenüber unserer Mitmenschen. Meist positiv korrelierend mit der Tragweite einer schlechten Entscheidung durchlaufen wir mehr oder minder quälend einen komplexen Prozess aus Leugnen, Umdeuten, Rechtfertigen und eine Suche nach Schuldigen im Außen, bis wir erst uns selbst und schließlich im Außen zu einer Fehlentscheidung offen stehen.

Viele kleine Entscheidungen: Trial and Error

Diesen Mechanismen, mit begrenzten Informationen umzugehen, die eher schlechte Entscheidungen begünstigen, wollen wir nun einen Ansatz gegenüberstellen, der – so erforschte es Gerd Gigerenzer – auch bei knapper Informationslage eher zu guten Entscheidungen führen kann. Er fand heraus: Einfache Heuristiken können Probleme oft schneller und besser lösen als komplexe Strategien. Mit Heuristik ist ein Vorgehen gemeint, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit dennoch zu guten praktikablen Lösungen zu kommen: basierend auf Erfahrungen, Wahrnehmungen und erlernten Fähigkeiten.

Die wohl bekanntesten Heuristiken, die wir alle regelmäßig nutzen, sind „trial and error“ und das Ausschlussverfahren. Gigerenzer nutzt für die Veranschaulichung seiner These die Frage: Wie entscheidet ein Baseballspieler, wohin er genau laufen muss, um den Ball zu fangen? Er berechnet nicht etwa die Parabel-förmige Flugbahn, inklusive Geschwindigkeit und Störfaktoren wie Windrichtung, sondern nutzt eine Fähigkeit, die uns die Evolution geschenkt und sein vieles Training für ihn perfektioniert hat: die Blick-Heuristik. Der Spieler fixiert den Ball, beginnt zu laufen und passt die Laufgeschwindigkeit so an, daß der Blickwinkel konstant bleibt. Dabei blendet er alles andere um sich herum aus. So nähern der Ball und er sich maximal gut aneinander an. Das machen wir alle übrigens so.

Gut Entscheiden – dank Ignoranz

Daran schliesst sich eine zweite wichtige Erkenntnis an: Ignoranz kann nützlich sein. Gigerenzer meint damit natürlich nur partielle und bewusste Ignoranz. Weil wir nicht immer einen Expertenpool zur Verfügung haben. Besonders wenn es schnell gehen muss, sind wir ständig mit der Notwendigkeit zur Ignoranz konfrontiert und können daraus sogar nützliche Information extrahieren. Folgen wir mal kurz seinem Beispiel, wie es sich auch regelmäßig bei der Quizsendung „Wer wird Millionär?“ abspielt.

Gigerenzer fragte Amerikaner und Deutsche gleichermaßen: Welche Stadt hat mehr Einwohner – San Diego oder San Antonio? 72% der befragten Amerikaner lagen mit ihrer Antwort richtig. Und obwohl bei uns Deutschen die Chancen eher schlecht liegen, da wir wenig über San Diego wissen, und von San Antonio wahrscheinlich noch nie gehört haben, hatten 100% die Frage richtig beantwortet: San Diego ist größer. Unser Vorteil ist, daß wir eine schnelle Heuristik, die Rekognitionsheuristik nutzen können: Wenn wir von einer Stadt schon oft gehört hat, von der anderen aber noch nie, dann stehen die Chancen gut, dass die erste Stadt mehr Einwohner hat. Die befragten Amerikaner konnten diese Heuristik nicht nutzen, sie wussten zu viel. Man braucht partielle Ignoranz, um die Rekognitionsheuristik anwenden zu können. 

Intuition statt Information

„Go with what you know“ nennt Gerd Gigerenzer dieses Vorgehen. Er verknüpft diese Art Entscheidungen zu treffen mit dem wichtigen, aber immer noch viel zu oft unterschätzten Intelligenzsystem Intuition – in seinem Text „Intuition und Führung“:

Intuition ist nicht sechster Sinn, göttliche Eingebung oder ein parapsychologisches Phänomen. Wir verwenden den Begriff „Intuition“ oder auch „Bauchgefühl“, um ein Urteil zu bezeichnen, das rasch im Bewusstsein auftaucht, dessen tiefere Gründe uns nicht ganz bewusst sind, und das stark genug ist, um danach zu handeln. […]

Große Teile unseres Gehirns arbeiten unbewusst, einschließlich der Großhirnrinde. Was dort gespeichert wird, ist die Grundlage von Intuition. Sich diese unbewusste Intelligenz zunutze zu machen, ist ein wesentlicher Schlüssel für gute Entscheidungen in einer unsicheren, komplexen Welt (Gigerenzer, 2007). Ohne Intuition könnten wir wenig zustande bringen. […]

Die beiden Beispiele veranschaulichen zwei Konflikte im Umgang mit Intuition:

  • Intuition ist gefühltes Wissen, das man nicht begründen kann. Man kann also die Gründe nicht in Sprache ausdrücken. Daher ist es sinnlos, jemanden nach Gründen für eine intuitive Entscheidung zu fragen.
  • Intuition gilt in weiten Bereichen unserer Gesellschaft als verdächtig. Wenn etwas schiefgeht, kann man nicht einfach sagen, das war intuitiv. Kann man aber auf analytische Prozeduren verweisen, sichert man sich besser ab. Dies führt zu einer Absicherungskultur durch Prozeduren, die auf Kosten der Performance gehen kann.

Erfahrung statt Erforschung

Der kanadische Journalist und Buchautor Malcolm Gladwell hat in seinem Buch „Blink! Die Macht des Moments“ viele Studien zusammengetragen, die allesamt zeigen: Nicht das fundierte Abwägen, sondern blitzschnelles Entscheiden – der Wimpernschlag – bestimmt unser Leben. Er beginnt mit einem eindrucksvollen, nicht ganz alltäglichen Beispiel, das in den USA vor ein paar Jahrzehnten großes Aufsehen erregte. Das Getty-Museum in Los Angeles hatte eine antike Mamor-Statue zum Kauf angeboten bekommen. Die Statue wurde auf ein Alter von 2500 Jahren geschätzt. Sie sollte 10 Millionen Dollar kosten.

Das Museum gab damals ein Gutachten in Auftrag, um die Echtheit prüfen zu lassen. Naturwissenschaftler machten sich mit Röntgenapparaten und Elektronenmikroskopen an die Arbeit und nach monatelanger Untersuchung fanden sie kein Anzeichen für eine Fälschung. Als aber ein vorbeilaufender, sehr erfahrener Archäologe die Statue das erste Mal sah, bekam er sofort ein ungutes Gefühl, dass er folgendermaßen beschrieb: es fühle sich an, als sei eine Glasscheibe zwischen ihm und dem Werk.

Weitere Kunstexperten wurden hinzugezogen und meldeten ebenfalls spontan Zweifel an, die sie kaum in Worte fassen konnte: die Fingernägel seien seltsam, oder, die Skulptur wirke für eine alte griechische Statue zu frisch. Schließlich stellte sich heraus: Sie hatten Recht. Die monatelangen Untersuchungen erwiesen sich als irreführend, denn es handelte sich tatsächlich um eine Fälschung. Die Kunstkenner waren in Sekundenschnelle ohne Apparate aber mit Bauchgefühl dank vielseitiger Erfahrung zu einem treffsicheren Urteil gekommen.

Mit diesem Urteil im Hinterkopf konnten schließlich andere Untersuchungen angestellt werden. So stellte sich heraus, dass eine bisher unbekannte Technik genutzt worden war, um den Marmor künstlich altern zu lassen. Menschliche Intuition hatte das Getty-Museum vor einem großen Schaden bewahrt.

Gutes Entscheiden ist breit aufgestellt

Fassen wir nochmal zusammen: Es gibt eine Vielzahl von Unterarten von Entscheidungen – leichte oder schwierige, komplexe oder einfache, Entscheidungen unter Risiko und Entscheidungen unter Unsicherheit, schnelle Entscheidungen oder solche, für die wir viel Zeit haben. Es scheint vor allem unsere Erfahrung zu sein, die uns dabei hilft zu erkennen, um welche Entscheidungen es sich handelt und welcher Entscheidungsprozess sich für diese Situation am ehesten anbietet: ob Intuition, Heuristik und partielle Ignoranz zielführender sind, der intensive Austausch mit anderen Experten oder der klassische Weg entlang der rational choice theory. 

Abschließend wollen wir noch eine letzte Frage aufgreifen, da wir hier wie selbstverständlich von schlechten und guten Entscheidungen sprechen ohne klare Definition geliefert zu haben, wann oder wie eine Entscheidung als schlecht oder als gut kategorisiert werden kann. Im täglichen Leben machen wir das meist ganz intuitiv an der Konsequenz fest, die diese oder jene Entscheidung hatte: ist die Konsequenz einer Entscheidung für uns positiv, war es eine gute Entscheidung – und andersherum. Aber wie siehst du das: wann würdest du bei dir von einer guten Entscheidung sprechen und wann von einer schlechten Entscheidung?

Zusätzliche Literatur

  • Gerd Gigerenzer, Risiko – wie man richtige Entscheidungen trifft, C. Bertelsmann 2013
  • Gerd Gigerenzer, Intuition und Führung, Bertelsmann 2013
  • Surowiecki, James: The Wisdom of Crowds. New York, Anchor 2005
  • Malcolm Gladwell, Blink!: Die Macht des Moments, Campus, 2005
  • Hans-Rüdiger Pfister, Helmut Jungermann, Katrin Fischer, Die Psychologie der Entscheidung, Eine Einführung, Springer 2017

Über den Autor

Dr. Fabian Urban ist promovierter Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftler, systemischer Berater und aktiver Ironman-Triathlet. Er promovierte an der Universität Freiburg am Lehrstuhl für Personal- und Organisationsökonomie zum Thema „Emotionen und Führung“.

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Selbstführung: das Fundament von Führung

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Selbstführung: das Fundament von Führung

Wer Andere führen möchte, muss sich zunächst selbst führen können. So oder so ähnlich lesen sich in wissenschaftlichen Texten die einleitenden Gedanken über Selbstführung. Das macht auch Sinn, denn in der Selbstführung können wir sowohl das aktive Führen üben, als auch die Auswirkung von Führung auf Geführte (in diesem Fall: uns selbst) verstehen lernen. Selbstführung ist der kraftvollste Übungsraum für Führung. Denn Selbstführung ist auf den ersten Blick gar nicht so anders als Führung von Teams, Ideen, Unternehmen oder Projekten. Es braucht – hier wie dort – Ziele und Visionen, Ressourcen und Pläne, dazu Management, Kommunikation und schliesslich auch Controlling. Und dennoch scheint es schwerer, sich selbst eine gute Führungskraft zu sein als anderen. Warum?

Führung beginnt bei uns selbst

Wenn wir andere führen, wollen wir mit ihnen gemeinsam größere Ziele erreichen. Zu diesem Zwecke ermöglichen wir ihnen, ihre Potentiale zu heben, aus sich selbst heraus für die gemeinsamen Ziele wirksam zu sein und sich als Teil des Ganzen zu begreifen. Und das muss auch für uns selbst gelten. Doch oft fällt es uns leichter, die Stärken und Ressourcen anderer zu erkennen als die eigenen. Dieser Text soll eine Einladung sein, sich intensiver mit seinen eigenen „inneren Mitarbeitern“ auseinander zu setzen.

Zunächst wollen wir aber den Background anleuchten und die gängige Definition von Selbstführung aufgreifen und zur Diskussion stellen. Starten wir mit einer kleinen Reise zu den Feldern, auf denen Selbstführung in der Theorie bearbeitet wird. In der Wissenschaft befinden sich diese Felder vornehmlich in den Bereichen Verhaltenswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften und vor allem an ihren Schnittstellen. Der Begriff bekam ab den 1980er Jahren zunehmend Aufmerksamkeit, zumeist in Verbindung mit Selbstmanagement.

Es ist hilfreich, diese Herkunft im Hinterkopf zu behalten, wenn man sich mit Beiträgen zu Selbstführung auseinandersetzt: nicht selten spiegelt sich dort das Menschenbild des Homo Oeconomicus wieder. Die Idee des Menschen als reinen „Nutzenmaximierer“, die im vergangenen Jahrhundert durch die Wirtschaftswissenschaften geisterte, wurde aber mittlerweile vielfach widerlegt. Es hilft uns aber zu verstehen, warum oft die Idee Selbstoptimierung beim Gedanken an Selbstführung mitschwingt.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden Beiträge über Selbstführung interdisziplinär und bedienten sich der Erkenntnissen aus der Psychologie und Neurowissenschaft. Auch das kann seine Tücken haben. Für viele von uns lesen sich die Beiträge aus der klassischen Psychologie durch ihre Wortwahl oft eher defizitär anstatt befähigend. Wir denken da zum Beispiel an das Stichwort „Selbstregulation„. In der Wissenschaft wertfrei verwendet, löst es bei uns oft eher wertende Assoziationen aus.

Selbstführung als Selbstbeeinflussung?

Nach Selbstoptimierung klingt zunächst auch der folgende einleitende Satz eines Aufsatzes über Selbstführung von Marco Furtner. Er ist Professor für Leadership an der Universität Liechtenstein und einer der aktivsten deutschsprachigen Wissenschaftler im Bereich Selbstführung. 

Allgemein definiert sich Self-Leadership als selbstbeeinflussender Prozess zur Steigerung der persönlichen Effektivität (Influencing Oneself, Neck und Manz 2010, S. 4).“ 

Die beiden amerikanische Kollegen Neck und Manz, auf die er sich hier bezieht, sind so etwas wie die Urväter der Selbstführungsforschung. In seinem Buch „Self-Leadership Basics“ schreibt er etwas ausführlicher in der Einleitung folgenden Absatz: 

Im Kern geht es bei Self-Leadership darum, die eigenen Gedanken, Emotionen und das Verhalten zielorientiert zu beeinflussen und in eine positive Richtung zu lenken. Um sich selbst effektiv zu beeinflussen, benötigt es ein hohes Ausmaß an Selbstreflexion, kurzum die Fähigkeit zur achtsamen Selbstbeobachtung. Mittels Selbstbeobachtung gewinnen Menschen Macht, Wissen und Kontrolle über sich selbst. Sie lernen ihre Stärken und Schwächen kennen, setzen sich Ziele und können ihr Verhalten in eine gewünschte Richtung lenken.

Selbstbeobachtung dient nicht nur zur Kontrolle der eigenen Gedanken, Emotionen und des eigenen Verhaltens, sondern ist ein wichtiges Feedback-Instrument. Nur mittels Selbstbeobachtung können wir uns unmittelbar selbst eine Rückmeldung geben. Wir lernen, uns selbst effektiv zu beeinflussen und unsere Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen in eine gewünschte Richtung zu lenken. Mittels Selbstbeobachtung können wir den Status quo (Istzustand) ermitteln und uns selbst Ziele setzen (Sollzustand).

Was hier einerseits treffend und umfassend benannt wird, bedient sich andererseits einer Wortwahl, die wir zur Diskussion stellen wollen. Was implizieren Worte wie Macht, Kontrolle, Beeinflussung in Bezug auf unsere ganz individuelle Selbstführung? Inwieweit lösen diese Worte bei uns Assoziationen aus, die nicht gerade einen Potential- und Ressourcen-orientierten Ansatz unterstützen? Und welche erweiterten Konzepte sind darin dennoch enthalten, die uns in auf Potential-orientierte Weise weiterhelfen könnten?

Selbstführung als „Super Leadership“?

Lassen wir noch einen weiteren Wissenschaftler zu Wort kommen, Günther Fred Müller. Als mittlerweile emeritierter Professor für Sozial- und Arbeitspsychologie beschäftigte er sich intensiv mit Selbstführung an der Universität Koblenz. Er beschreibt Selbstführung in einem Aufsatz folgendermaßen: 

Selbstführung ist ein relativ neuer Ansatz psychologischer Führungsforschung. Sich selbst zu führen erweist sich vor allem dann als effektiv, wenn in Organisationen dezentral und hochflexibel zusammengearbeitet werden muss. Die Bezeichnung dieses Ansatzes als „super leadership“ kennzeichnet ein Prinzip, Führung möglichst flächendeckend zu verteilen, Verantwortung zu delegieren und Organisationsmitglieder in die Lage zu versetzen, Aufgaben in eigener Regie zu bearbeiten. 

Selbstführung zielt als erstes darauf ab, eine stimmige berufliche Identität bewahren oder entwickeln zu wollen. Dazu bedarf es „innerer“ Mitarbeiter oder psychischer Potenziale und Ressourcen, die für persönlich wichtige Berufsziele bewusst und absichtsvoll aktiviert werden können. Kompetente Selbstführung verbessert die Kontrolle und Steuerung des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns. Sie basiert auf Kenntnissen über lern-, motivations- und kognitionspsychologische Gesetzmäßigkeiten, und dem Wissen, wie emotionale und volitionale Prozesse funktionieren.

Wenn Führungskräfte sich selbst führen, ist und erscheint auch ihr Verhalten authentischer und weniger rollenspezifisch. Schulz von Thun (2004) spricht hier von „wesensgemäßer“ Führung. Führungskräfte handeln in Übereinstimmung mit eigenen Werten und Prioritäten und stehen persönlich für das ein, was sie in ihrer Position für notwendig und zweckmäßig erachten.

Welche Aspekte bringt er zum Thema Selbstführung mit dieser Zusammenfassung ins Spiel? Welche Ansätze bietet er an, die unser Interesse an Selbstführung wecken können? Inwieweit darf eine dezentrale, hochflexible Organisationen ihren Mitarbeitern Selbstführung abverlangen?

Abgrenzung zu Selbstmanagement und Selbstregulation

Abschliessend wollen wir eine kurze Abgrenzung zu den Konzepten von Selbstregulation und Selbstmanagement und eine mögliche Definition von Selbstführung anbieten.

Das Konzept der Selbstregulation kommt vor allem aus der Neuropsychologie und beschreibt oft einen eher unbewussten, automatisierten Prozess der Diskrepanz-Reduktion: die selbstinitiierte Anpassung des inneren Zustandes (basierend auf unseren Emotionen, Stimmungen, Gedanken) aufgrund eines wahrgenommenen Unterschieds zwischen diesem inneren Zustand, der grad ist, und einem stattdessen gewünschten inneren Zustand.
Beispiel: jemand nimmt uns beim Autofahren die Vorfahrt, wir erschrecken uns und sind verärgert, aber wissen, dass das keine gute Voraussetzung für sicheres Autofahren ist. Also atmen wir tief durch und entspannen unsere Hände, die sich durch die Anspannung bereits fest um das Lenkrad geklammert hatten.

Selbstmanagement kommt stärker aus den Verhaltenswissenschaften und beschreibt den Vorgang des Anpassens unseres Verhaltens an einen bestimmten Standard, meist ein klar definiertes Ziel. Eine der Grundlagen dafür bilden sogenannte Kontrollschleifen, die uns helfen Abweichungen von einem Weg oder einem Ziel zu erkennen und daraufhin festzustellen, was nun vor allem im Außen getan werden sollte, um wieder näher ans Ziel zu kommen.
Beispiel: Wir trainieren für einen Triathlon und bemerken beim Blick in die Aufzeichnungen unseres Trainings, dass das Schwimmen in den letzten Wochen deutlich zu kurz gekommen ist, weil wir abends nach der Arbeit einfach oft zu müde für’s Schwimmen waren. Daher gehen wir jetzt zweimal die Woche morgens vor der Arbeit zum Frühschwimmen in die Schwimmhalle.

Was ist dann Selbstführung?

Im Vergleich zur Selbstregulation, die vor allem im Inneren abläuft, und im Vergleich zum Selbstmanagement, das vor allem Handlungen im Außen beschreibt, umfasst Selbstführung eine komplexe Vielfalt von inneren und äußeren Aspekten. Selbstführung beschreibt was eine Person tun will (= Ziel) und warum sie dies tun will (= Motivation). Sie bezieht mit ein wie die Person das erreichen kann: welche Ressourcen und Fähigkeiten sie mitbringt und welche noch nicht genutzten Ressourcen (= Potentiale) sie dafür heben möchte. Sie beschreibt, wie die Person Stolpersteine überwindet und wie dies in Einklang mit den Werten und Bedürfnissen und den übergeordneten Verhaltenstreibern wie Interesse, Begeisterung und Freude geschehen kann (= Authentizität).

Zusätzliche Literatur

  • Furtner, Marco: Self-Leadership Basics, Springer Gabler, Wiesbaden 2017
  • Furtner, Marco: Self-Leadership in: Furtner, Marco & U. Baldegger, Self-Leadership und Führung, Springer Gabler, Wiesbaden 2016
  • Müller, Günter Fred: Mitarbeiterführung durch kompetente Selbstführung, in Zeitschrift für Management Heft 1, Januar 2006

Über die Autorin

Lena Schiller ist Politikwissenschaftlerin, Buchautorin und Coach. Sie hat mehrfach gegründet, ist Co-Director des House of Leadership und beschäftigt sich mit Transformation, Embodiment und Leadership.

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Leadership: eine aktivierende Einführung

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Leadership: eine aktivierende Einführung

Ideen entstehen. Energie liegt im Raum. Dinge erscheinen möglich. Ein vages Vorhaben wird zu einer konkreten Mission. Hierfür braucht es Menschen mit ihren Potentialen und Kompetenzen, ihren Qualitäten und Ressourcen. Und es braucht einen Rahmen. Es braucht Leadership als ein Vehikel, das wertschätzend, aktivierend und authentisch diese Mission und das Miteinander aller Beteiligten gestaltet. Um Ziele wahrlich gemeinsam zu erreichen, spielt Führung die entscheidende Rolle. Aber was genau ist Führung und was braucht es, damit sie gelingen kann? Mit diesem Beitrag wollen wir einen übergeordneten Einstieg in das Thema Führung und in das verwandte Thema Leadership machen.

Herausforderungen von Leadership

Man möchte meinen, dass die Frage „Was ist Führung?“ nicht nur tausendfach sondern vor allem mittlerweile abschliessend beantwortet worden wäre. Tausendfach ja, abschließend aber noch nicht. Das gleiche gilt für den Begriff der Führung, der oft (nicht immer!) synonym zu Leadership verwendet werden darf. Dass das nicht so einfach möglich ist, beschreibe ich in meiner Doktorarbeit „Emotionen und Führung“ (Gabler, 2008) folgendermaßen:

Führung ist ein Phänomen, welches in der Ökonomie seit dem Beginn der Industrialisierung zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, wenngleich es im Rahmen der menschlichen Entwicklungsgeschichte in unterschiedlichen Formen schon sehr viel länger existiert (z.B. militärische Führung in der Antike). Insbesondere seit in Gemeinschaften Aufgaben nach dem Prinzip der differenzierten Arbeitsteilung erfüllt werden, müssen diese unter der Führung Einzelner auch zusammengebracht und integriert werden. Versucht man hiervon ausgehend eine für die Führungsforschung allgemein gültige und arbeitsfähige Formulierung zu erstellen oder exakte Definitionsmerkmale zu isolieren, die das Phänomen Führung präzise charakterisieren, so muss man konstatieren, dass keine allgemein gültige Definition existiert.“

Das mag unter anderem daran liegen, dass es ein paar sehr grundlegende Herausforderungen mit dem Thema Führung gibt. Auf einige von ihnen möchte ich im Folgenden eingehen.

Führung ist situativ

Eine der größten Herausforderungen von Leadership ist, dass es situativ ist. Deswegen ist es unmöglich, so etwas wie gute Führung zu beschreiben oder gar festzulegen, woran sie sich messen ließe.  Das fängt schon damit an, dass nicht in jede Situation von Führung profitiert. Es gibt viele Situationen im Arbeitsalltag, in denen Führung zwar gelingen mag, aber den Ausgang einer Sache negativ beeinflusst. Stelle dir einmal vor, ein Mitarbeiter, der nur in Teilzeit arbeitet, kommt zu dir und klagt darüber, dass die Kollegen immer mit den Augen rollen, wenn er jeden Tag früher heimgeht.

Was tust du, bzw. was wäre jetzt gute Führung? Wäre es besser, das Thema im nächsten Teammeeting aufgreifen um offen klar zu machen, dass Verhalten, das dem Teamzusammenhalt schadet, nicht geduldet wird? Oder sollten das Team nicht solche Themen besser untereinander und selbst lösen können? Würde dein Eingreifen ihnen nicht die Chance nehmen, aus sich selbst heraus einen wichtigen, nachhaltigen Schritt aufeinander zu zu gehen? Was in der einen Situation als Führungsverhalten passend ist und zum richtigen Ergebnis führt, mag in einer anderen Situation nicht gelingen. Es kann sogar nach hinten losgehen und die Zielerreichung verhindern. 

Führung ist unsichtbar

Eine weitere, fast größere Herausforderung von Führung ist, dass es im Grunde unsichtbar ist. Hast du schon mal Führung gesehen? Meistens hat man sie ja mal irgendwie beobachten können: aber was genau hast du dann gesehen? Machen wir es mal konkret: Ein Teamleiter gibt seinem Mitarbeiter eine Anordnung und der führt sie tatsächlich aus. Im Nachhinein würde man dazu neigen zu sagen: der Mitarbeiter hat die Tätigkeit ausgeführt, weil sein Teamleiter sie angeordnet hat, und demnach hat der Teamleiter also den Mitarbeiter geführt. Aber ganz genau wissen wir es nicht: der Mitarbeiter könnte aus vielen Gründen das angeordnete Verhalten gezeigt haben. Vielleicht hatte er Interesse an der Sache oder das Verhalten war eine logische Konsequenz aus vorangegangenen Situationen. Oder der Mitarbeiter bekam irgendeinen Impuls irgendwo anders her, sich so zu verhalten.

Wir können jedenfalls nicht in den Mitarbeiter hineinschauen. Zunächst wissen wir daher nicht genau, warum er das getan hat, was der Anordnung seines Chefs entsprach. Wir stellen einfach gedanklich – meist automatisch – einen Zusammenhang zwischen der Anordnung des Chefs und der Reaktion des Mitarbeiter her. Aber wir können durch bloße Beobachtung nicht sehen, ob der Teamleiter wirklich geführt hat. Aufgrund des Ergebnisses können wir es nur vermuten. „Führung“ ist nur eine von vielen Erklärungen dafür, warum sich ein Mitarbeiter so verhält, wie er es tut. Ob wir also Führung – oder etwas höher gegriffen: Leadership – sehen können, hängt davon ab, wie wir uns das beobachtete Verhalten und die Intentionen der beteiligten Menschen erklären.

Leadership braucht Interpretation

Wir haben es bei Führung ebenso wie beim Leadership (wir kommen weiter unten noch auf einen Unterschied zu sprechen) mit einem Phänomen zu tun, das niemand direkt beobachten kann, sondern nur als logische Interpretation aus dem Verlauf einer Situation herleiten kann. Auch die Frage nach der „Leader-Persönlichkeit“ entsteht meist aus unserer Interpretation des beobachteten Verhaltens eines Menschen. Kurz: Führung ist ein unsichtbares Phänomen, das als Interpretation in den Köpfen der Beobachter entsteht. Daraus ergeben sich zwei weitere Herausforderungen:
1. Wie kann man etwas lernen, dass durch Beobachtung wahrnehmbar aber kaum wirklich sichtbar wird?
2. Führung hat meistens sehr viele Beobachter und das macht es heikel.

Wir alle kennen das Phänomen, wenn bei einem Spiel der deutschen Fussballnationalmannschaft 84 Millionen Bundestrainer vor dem Fernseher sitzen. Dabei kommt der Trainer meist nicht gut weg. Und als Bürger*innen dieses Landes beobachten wir – zu Recht – unsere politischen Führungspersonen andauernd. Und nicht nur das, wir interpretieren, urteilen und und kommentieren die Situationen ihre Führungsarbeit dabei regelmäßig: wir sprechen dann von guter oder schlechter oder nicht vorhandener Führung, als gäbe es einen klaren Maßstab.

Dabei bringen wir eine Vielzahl bewusster aber auch unbewusster Vorstellungen und Standards in unsere Beurteilungen ein. Wir lernen dadurch viel über uns oder diejenigen, deren Führungsbeobachtungen und -interpretationen wir mitgeteilt bekommen, aber selten etwas über Führung selbst. Und je mehr Führung aus den unterschiedlichsten Perspektiven kommentiert und interpretiert wird, um so mehr kann das die angehenden (und ebenso erfahrenen) Führungskräfte verunsichern. 

Wie lässt sich dann Leadership lernen und wann weiß man, ob man einen guten Job macht? Wie kann man sich selbst ein zielführendes Verständnis von Leadership aneignen und wie wird man zu einem verlässlichen Beobachter seiner eigenen Führung? 

Minimal-Definition von Führung

Führung ist ein asymmetrischer Prozess, der in einem Kontext (k) zwischen mindestens zwei Personen (nämlich X -> Führende und Y -> Geführte) stattfindet, so dass X (Führende) durch Mittel (M) eine von X (Führende) intendierte ausschlaggebende Rolle dabei spielt, dass Y (Geführte) Ziele (Z) akzeptiert, oder durch Mittel (M) eine ausschlaggebende Rolle dabei spielt, dass Y (Geführte) bei der Umsetzung von Z (Ziele) mitwirkt.

Halte gerne kurz inne und lasse das wirken. Beziehungsweise: zerteile es in kleine Teilstücke und übertrage sie auf deinen Führungskontext – so wird es greifbarer. Wir halten fest, dass Führung immer ein zielorientierter und asymmetrischer Prozess der Einflussnahme ist – also bewusst, kein Zufallsprodukt. Er findet nicht auf Augenhöhe statt, da die Einflussnahme bei gelingender Führung tatsächlich nur von der führenden Person ausgeht. Der Person stehen bestimmte Mittel zur Verfügung, die der/die Geführte nicht hat.

Was auch aus in der Definition mitschwingt, ist, dass es von allen Beteiligten in der Führungsbeziehung abhängt, ob der Führungsprozess tatsächlich zustande kommt. Ohne Mitwirkung der Geführten ist Führung also nicht möglich. Und es braucht offenbar auch einen Kontext – also äußere Rahmenbedingungen dafür. Abschliessend kann man noch mal auf die „Mittel (M)“ blicken, die der/dem Führenden zur Verfügung stehen: zu diesen kann hinzugefügt werden, dass sie sich sowohl aus dem Kontext, der Position und der Person und Persönlichkeit des Führenden zusammensetzen. 

Maximal-Definition von Leadership

Wir wollen dieser sehr kondensierten Definition jetzt noch eine deutlich ausführliche, integrative Definition von Leadership zur Seite stellen. Der folgende zitierte Text ist ein kleiner (übersetzter) Auszug aus „An Integrative Definition of Leadership“, der 2006 von zwei amerikanischen Führungsforschern (Kathleen Patterson und Bruce E. Winston) mit dem Schwerpunkt „Servant Leadership“ veröffentlicht wurde. Sie ist zunächst zwar leichter zu lesen, aber deutlich komplexer in Bezug auf die verschiedenen Puzzleteile, die bei gelingender Führung ineinander greifen müssen. (Hinweis: Mache nach jedem Absatz Pause und übertrage das Gelesene kurz ganz konkret auf deinen Kontext.)

Ein Leader ist…

Ein Leader ist eine oder mehrere Personen, die einen oder mehrere Geführte mit unterschiedlichen Gaben, Fähigkeiten und Fertigkeiten auswählt, ausrüstet, ausbildet und beeinflusst. Er richtet die Geführten auf die Mission und die Ziele der Organisation aus, wodurch die Geführten bereitwillig und enthusiastisch spirituelle, emotionale und physische Energie in einer konzertierten, koordinierten Anstrengung aufwenden, um die Mission und die Ziele der Organisation zu erreichen. Der Leader erreicht diesen Einfluss, indem er eine Zukunftsvision in klaren Worten übermittelt. Die Vision stimmt mit den Überzeugungen und Werten der Geführten so über, dass die Geführten die Zukunftsvision verstehen und in gegenwärtige Handlungsschritte übersetzen können.

Der Leader präsentiert die Zukunftvision…

In diesem Prozess präsentiert der Leader die Zukunftsvision als Gegensatz zum gegenwärtigen Status der Organisation. Dies tut er durch den Einsatz von kritischem Denken, Einsicht, Intuition und dem Einsatz von sowohl überzeugender Rhetorik als auch zwischenmenschlicher Kommunikation, einschließlich aktivem Zuhören und positivem Diskurs. Das erleichtert und fördert die Meinungen und Überzeugungen der Geführten. So bewegen die Geführten sich aus der Mehrdeutigkeit heraus in Richtung Klarheit und gemeinsamer Einsicht. Das führt dazu, dass die Geführten dahingehend beeinflusst werden, den zukünftigen Zustand der Organisation als einen wünschenswerten Zustand zu sehen. Sie akzeptieren, dass dieser Zustand es wert ist, dass die Geführten ihre persönliche Ressourcen und Fähigkeiten zur Erreichung der Vision zu Verfügung stellen.

Ein Leader strebt das größere Wohl an…

Die Führungskraft erreicht dies mit ethischen Mitteln und strebt mit den geplanten Handlungsschritte das größere Wohl der Geführten an. So können die Geführten als Ergebnis der Interaktion mit dem Leader innerlich wachsen und es geht ihnen gut. (Das schließt die persönliche Entwicklung der Geführten sowie emotional und körperliche Unversehrtheit des Geführten ein). Der Leader erreicht den gleichen Zustand für sich selbst als Führungskraft. Er / Sie strebt persönliches Wachstum, Erneuerung, Regeneration und erhöhte Ausdauer – mental, physisch, emotional und spirituell – als Resultat der Interaktionen zwischen Führungskraft und Geführten an.

Ein Leader erkennt Vielfalt an…

Die Führungskraft erkennt die Vielfalt der Geführten an. Sie erreicht eine Einheit aus gemeinsamen Werten und eine gemeinsame Richtung, ohne die Einzigartigkeit der Person dabei zu gefährden oder zu minimieren. Der Leader erreicht dies durch passende, innovative Maßnahmen der Weiterbildung, Unterstützung und des Schutzes. Dieser bietet den Geführten das, was sie benötigten im Rahmen des Zieles und der Möglichkeiten der organisationalen Ressourcen und im Verhältnis zum Wert der Zielerreichung.

Ein Leader befähigt…

Der Leader befähigt in diesem Prozess des Führens die Geführten zu innovativem sowie selbstgesteuertem Handeln. Dies tut er im Rahmen von Aufträgen an einzelne Geführte und lässt diese von von sich selbst lernen eben sowie von den Erfolgen, Fehlern und Misserfolgen der Anderer im Prozess der Erfüllung der Ziele der Organisation. Der Leader erreicht dies, indem er Glaubwürdigkeit und Vertrauen bei den Geführten durch Interaktion mit und Feedback an die Geführten aufbaut. Diese prägen die Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen der Geführten in Bezug auf Risiko, Misserfolg und Erfolg prägen. […]“ (Die Definition geht noch weiter. Aus Gründen der Lesbarkeit wurde sie hier gekürzt. Es handelt sich um eine Eigenübersetzung)

Die Wissenschaftler präsentieren hier eine wirklich sehr umfassende Definition von Leadership im Sinne von „Servant Leadership“. Dafür haben sie in ihrer vorangegangenen Forschung über 90 Variablen betrachtet, und wollen damit sowohl Praktikern als auch Forschern helfen, die Vielfalt und beinahe grenzenlos erscheinende Vielzahl von Aspekten der Führung besser zu verstehen. Sie wird gerne als Grundlage für Programme zur Entwicklung von Führungskräften verwendet. Was fällt dir an dieser umfassenden Definition besonders auf? Welcher Unterschied zwischen Führung und Leadership deutet sich in den zwei unterschiedlichen Definitionen an?

Nicht nur Führungskraft sondern auch Leader werden

Was können wir aus den oben zitierten Definitionen darüber lernen, was die konkreten Aufgaben einer Führungskraft sind? Und wenn Führung (und Leadership) unsichtbar, stark situativ ist und nur durch Beobachtung und Beurteilung des Verhaltens eines Menschen in einer Situation irgendwie greifbar wird, was können wir daraus ableiten, was eine Führungspersönlichkeit ausmacht? Auf der Suche nach einem neuen Polizeipräsidenten soll Ingo Kleist, innenpolitischer Sprecher der Hamburger SPD-Bürgerschaftsfraktion, mal gesagt haben (lt. Friedemann Schulz von Thun): 

„Die ideale Führungspersönlichkeit braucht: die Würde eines Erzbischofs, die Selbstlosigkeit eines Missionars, die Beharrlichkeit eines Steuerbeamten, die Erfahrung eines Wirtschaftsprüfers, die Arbeitskraft eines Kulis, den Takt eines Botschafters, die Genialität eines Nobelpreisträgers, den Optimismus eines Schiffbrüchigen, die Findigkeit eines Rechtsanwalts, die Gesundheit eines Olympiakämpfers, die Geduld eines Kindermädchens, das Lächeln eines Filmstars und das dicke Fell eines Nilpferds.“ 

Was hier auf amüsante Art zusammengefasst wird: die Anforderungen an Führungskräfte sind sehr vielfältig, manchmal gar widersprüchlich und um sie alle erfüllen zu können, müsste man übermenschlich sein. Was lässt sich daraus jetzt für gute – oder wie wir lieber sagen: gelingende – Führung ableiten? Der Kommunikationsexperte Friedemann Schulz von Thun schreibt in „Kommunikationspsychologie für Führungskräfte“ dazu: 

Das richtige Führungsverhalten ist nicht auf Rezept zu haben, man muss es an sich herausfinden und entwicklen, es ist also immer eine kleine Erfindung ‚Marke Eigenbau‘. Jeder ist dabei selbst der kompetenteste Experte für eine Führungssituation und für sich selbst.“ 

Schaue dir abschließend noch dieses folgenden Video an, in dem ich darüber spreche, was Leadership für mich bedeutet.

Und deswegen ist es Ziel unserer Seminare, dich ein Stück des Weges zu begleiten dieser Experte für Führungssituationen und dich selbst zu werden.

Zusätzliche Literatur

  • Kathleen Patterson & Bruce E. Winston An Integrative Definition of Leadership – International Journal of Leadership Studies (Band 1, Ausgabe 2, 2006, S. 6-66)
  • Urban, Fabian York, Emotionen und Führung, Gabler, 2008
  • Schulz von Thun, Friedemann; Ruppel, Johannes; Stratmann, Roswitha, Miteinander Reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte (Miteinander reden – Praxis), Rowohlt, 2003
  • https://uni-tuebingen.de/einrichtungen/zentrale-einrichtungen/internationales-zentrum-fuer-ethik-in-den-wissenschaften/forschung/ethik-und-bildung/fuehrungsethik-als-ethik-in-den-wissenschaften/#c714481

Über den Autor

Dr. Fabian Urban ist promovierter Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftler, systemischer Berater und aktiver Ironman-Triathlet. Er promovierte an der Universität Freiburg am Lehrstuhl für Personal- und Organisationsökonomie zum Thema „Emotionen und Führung“.

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Commitment: Zielsetzung im Leadership

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Commitment: Zielsetzung im Leadership

Wofür machen wir das? – Ebenso wie bei der Führung Anderer geht es auch bei der Selbstführung immer um das Setzen und Erreichen von Zielen. Den meisten Menschen, denen wir in unserer Arbeit begegnen, geht es so, dass sie entweder viel zu viele Antworten oder gar keine Antwort auf diese Frage haben. – Muss man den immer ein Ziel haben? Kann man nicht auch einfach das Leben leben, wie es sich nun mal entfaltet? – Doch, das kann und darf man. Nur sobald es uns ein Bedürfnis ist, unser Leben und Wirken bewusst(er) mitzugestalten, bedarf es der bewussten Zielsetzung. Sie eröffnet uns einen Möglichkeitenraum, gibt uns eine Richtung und aktiviert uns. Ohne Ziele entsteht nur selten Motivation und Aktivierung. Dann gibt es kaum konkrete Handlung und nur selten sichtbaren Fortschritt. Das Stecken von Zielen ermöglicht uns hingegen Bewegung. Wir setzen Prioritäten, treffen Entscheidungen, beobachten Fortschritte, reflektion unser Verhalten. Und – falls notwendig – gibt uns erst unsere Zielsetzung auch die notwendigen Impulse zur Verhaltensanpassung.

Wofür machen wir das?

Im Laufe unseres Lebens haben wir viel Wissen angehäuft, viele Fähigkeiten erworben und sind Experten auf Fachgebieten geworden. Wir haben Verhaltensweisen oder Kompetenzen eingeübt und Routinen entwickelt, die uns zielführend für unsere Entwicklung oder Zielererreichung erscheinen. Oft ganz bewusst, aber noch öfter ganz intuitiv und unterbewusst. Dann bemerken wir manchmal erst sehr viel später, wie sie uns auf zauberhafte Weise an unser Ziel gebracht haben.

Allerdings fällt uns manchmal im Nachhinein das Gegenteil auf: dass wir seit langem an etwas arbeiten und aus Gewohnheit Zeit und Energie in etwas investieren, aber uns unseres Ziels gar nicht (mehr) bewusst sind oder es aus den Augen verloren haben. Oder wir haben seit langem ein Ziel vor Augen, aber wir haben uns nie die Mühe gemacht, es mit den entsprechenden Vorbereitungen, Routinen und Handlungen zu verfolgen. Das kann sich anfühlen, als ob wir innerlich ins Schlingern geraten. Besonders dann, wenn wir augenscheinlich gerade auf einer Erfolgsschiene sind.

Wobei wir den Begriff Ziel im weitesten Sinne meinen: es kann ebenso eine Vision, ein Lebensgefühl, ein Alltagszustand oder ein konkret messbares Ergebnis gemeint sein. Nicht gemeint ist allerdings eine unerreichbare Wunschvorstellung oder ein utopischer Traum. Dies führt nicht nur irgendwann zu Frustration, sondern wirkt bereits von Beginn an de-aktivierend. Unser Gehirn merkt sowas nämlich sofort. Wie setze ich mir nun ein passendes, aktivierendes, motivierendes Ziel – für mein Leben und meine berufliche Tätigkeit? Und was kann ich tun – und was sollte ich auch mal lassen – um es tatsächlich zu erreichen? 

Zukunft entsteht durch Sprache

Wir erschaffen einen großen Teil unserer Zukunft zu allererst durch Sprache. Ein gutes Beispiel dafür ist die Eheschließung, wenn der/die Mitarbeitende im Standesamt deklaratorisch feststellt, „dass Sie nunmehr kraft Gesetzes rechtmäßig verbundene Eheleute sind“. Durch diese Worte entsteht Zukunft.

Wann immer wir eine klare Idee formulieren, eine Vision mit anderen teilen oder eine Erklärung wie die obige abgeben, eröffnen wir einen zukünftigen Möglichkeitsraum. Solange wir diese Zukunftsmöglichkeit nicht durch Sprache formen, entsteht meist auch kein konkreter Raum, in den wir uns bewusst hineinbewegen können. Es kann dann keine klaren Pläne und Maßnahmen geben, um diese Zukunft entstehen zu lassen. Und andere können uns auch nicht helfen, unsere erklärten Ziele zu erreichen. Natürlich entfaltet sich das Leben auch so und es bewegt sich vorwärts, unabhängig davon, ob wir eine Zukunftsvision aussprechen oder nicht. Aber sobald es uns ein Bedürfnis ist, unser Leben und Wirken bewusst(er) mitzugestalten, gibt uns unsere Zukunftserklärung eine Richtung vor und aktiviert uns. Ähnlich wie ein Straßenschild uns eine grobe Richtung und oft sogar einen konkreten Weg vorgibt.

Aktivierende Zielsetzung durch Zukunftserklärung

Eine solche Zukunftserklärung abzugeben, gehört zu den grundlegenden Fähigkeiten von Führung. Sei es, um unser eigenes Leben zu führen oder andere zu führen. Eine Zukunftserklärung enthält nicht nur eine Absichtserklärung an uns selbst. Wenn wir eine Zukunftserklärung abgeben, erzeugen wir auch in unserem Umfeld eine neue Realität, in der auch andere handlungsfähig werden.

Wenn der/die Mitarbeitende im Standesamt zwei Personen für verheiratet erklärt, entsteht eine Realität, in der auch Freunde, Familie, Institutionen und sogar der Staat mit diesen Personen als Paar nun neue Praktiken eingehen. Oder ein Staatsoberhaupt erklärt, es möchte der EU beitreten: dann öffnet das einen neuen Raum des Austausches und der Interaktion mit anderen Staatsoberhäuptern. Es entsteht eine klare Richtung für vielerlei Reformen und Handlungsperspektiven für Wirtschaft und Gesellschaft. Oder wenn wir als Unternehmer erklären, dass wir ein neues Produkt launchen, beginnen unsere Kunden und Wettbewerber sich auf dem Markt neu zu positionieren. Und wenn uns jemand seine Liebe gesteht, ist das nicht nur eine interessante Info. Es kommt bei uns zu einem Bewusstseinswandel, in dem sich unsere Stimmung, Handeln und Denken zu diesem Menschen verändern.

Ziel ist nicht gleich Ziel

Dabei gilt zu beachten: „Ziel ist nicht gleich Ziel“, wie die Psychologin Maja Storch schreibt. Als Begründerin des Zürcher Ressourcen Modells hat sie sich sehr intensiv mit den Themen Ressourcen, Potentiale und Ziele im Rahmen von Selbstführung auseinander gesetzt. In „Das Zürcher Ressourcen Modell. Gefühlsregulation und die Erzeugung von Sinn durch Motto-Ziele“ schreibt sie zusammen mit Julia Weber über Zielsetzung am Lebensende – eine berührende Perspektive. Dort unterteilt sie Zielsetzung und die sprachliche Formulierung von Zielen nochmal in drei Ebenen als eine Art Pyramide, die euch bei eurer Zielsetzung behilflich sein können.

  • Die Haltungsebene: diese betrifft die hohen, allgemeinen oder globalen, eher abstrakt formulierten Ziele. Meist handelt es sich um ein übergeordnetes Konzept und beschreibt die innere Haltung, die wir einem wichtigen Thema gegenüber haben. (Die Frage lautet hier: Warum? – Beispiel: Ich möchte Musik in meinem Leben einen Raum geben, weil sie mir Leichtigkeit, Freude und innere Erfüllung schenkt.)
  • Die Ergebnisebene: diese bezieht sich auf unseren Wunsch, was wir uns als Ergebnis unseres Ziels wünschen. Meist steigen wir bei Zielsetzungen über diese Ebene ein. (Die Frage lautet hier: Was? – Beispiel: Ich möchte Klavierspielen können.)
  • Die Verhaltensebene: hier befinden sich spezifische und lokale Zielformulierungen, die sehr konkret formuliert sind. Wir überlegen uns, welches Verhalten oder welche Handlung wir vorhaben, um die beiden oberen Ebenen zu erreichen. (Die Frage lautet hier: Wann? Wie? Wo? –  Beispiel: Ich werde mir ein Klavier kaufen, eine Klavierlehrerin suchen und täglich eine halbe Stunde üben.)

Zielsetzung – auf die Formulierung kommt es an

Maja Storch gibt in ihrem Kapitel „Wie Embodiment in der Psychologie erforscht wurde“ (aus dem Buch „Embodiment„) noch ein paar Hinweise, welche sprachlichen Formulierungen sich anbieten. Jenseits der Sachebene hat das besonders Einfluss auf das Gehirn und die körperliche Ebene, die wir integrieren wollen, damit sie uns nicht in die Quere kommen. Sie schreibt:

„Man kann sein Ziel in einer potenziellen Stress-Situation einmal als Vermeidungsziel formulieren: Ich möchte vermeiden, in Stress zu geraten. Den meisten Menschen fällt spontan diese Art der Zielformulierung ein, wenn man sie nach ihrer Handlungsabsicht angesichts bevorstehenden Stress-Situation fragt. Wenn man sein Ziel in dieser Form in Sprache fasst, gehen im Gehirn mehrere Arbeitsschritte vor sich. Zunächst wird eine innere Vorstellung von einer gestressten Verfassung aktiviert und in einem zweiten Schritt wird diese Verfassung dann als unerwünscht gekennzeichnet. Das entsprechend neuronale Netz wird zuerst aktiviert, um dann gehemmt zu werden.

Vom psychischen Energiehaushalt her gesehen entspricht das ungefähr der Taktik, zum Zwecke des Stehenbleibens in einem Ferrari erst den Gang einzulegen, Gas zu geben und dann die Handbremse zu ziehen. Ist sicher eine Methode, stehen zu bleiben, aber es gibt auch ökonomischere Varianten.

Die ökonomische Variante der Zielverfolgung für das Gehirn besteht in der Formulierung von Annäherungszielen. Sie fassen das in Worte, was Sie ausführen wollen. In welcher Verfassung wollen Sie sein? Wollen Sie souverän sein, oder selbstbewusst oder ruhig oder lieber in sich ruhend? Oder wollen sie wach und offen sein oder lieber auf sich selbst konzentriert? Wollen Sie charmant und hinreissend sein oder eher kompetent und ernst? Vielleicht wird Ihnen bei dieser Art von Fragen deutlich, dass es sehr viel mit der Passung auf die eigene Persönlichkeit zu tun hat, sich ein Annäherungsziel für ein Embodiment zu formulieren.“

Von der Zielsetzung zum Commitment

Hier wird deutlich, dass eine passende Zielformulierung eine gute Reflexion, ein neugieriges Ausprobieren und mehrere Schleifen des Verfeinerns benötigt. Maja Storch schlägt vor, das übergeordnete Ziel inklusive einiger Randbedingungen (wie zum Beispiel die Gefühlslage) in einer Annäherungs-Terminologie in Worte zu fassen. Dann findet der Teil des Gehirns, der für das Ausführen unseres Verhaltens zuständig ist, eine hilfreiche Grundlage vor. Eine sprachlich sorgfältig zusammengestellte, positiv verkörperbare Erklärung ist also der erste Schritt zur Gestaltung unserer Zukunft. Viele wissenschaftliche Untersuchungen haben bewiesen, dass wir Menschen eine bessere Selbstführung an den Tag legten, wenn wir uns zuvor intensiver mit dem „Warum?“ unseres Ziels beschäftigt hatten, als wenn wir stattdessen vor allem über die spezifische, konkrete Umsetzung unseres Ziels nachgedacht hatten.

Bevor wir uns an unsere eigenen Ziele machen, sei dies noch betont: Wir leben noch nicht sehr lange in einer Zeit und in einer Welt, in der es viele Möglichkeiten gibt, unser Leben und unsere Umwelt aktiv mitzugestalten. Für den größten Teil der Menschheitsgeschichte war dies nicht der Fall, und es gilt sicherlich noch lange nicht für alle Teile der Erde. Sich dies kurz bewusst zu machen, hilft, um unsere hohen Anspruchsvorstellungen an uns selbst zu relativieren. Zu hohe Ansprüche und zu hehre Ziele können der größte Stolperstein sein, wenn wir uns an die Gestaltung unserer Zukunft machen. Wir müssen mit unseren Zielen nicht gleich die Welt retten oder uns einer riesigen Mission unterwerfen. Kleine, erreichbare Ziele, die uns eine Richtung geben und für den Moment sinnvoll erscheinen, reichen völlig aus.

Zusätzliche Literatur

Storch, M., Cantieni, B., Hüther, G. & Tschacher, W.: Embodiment – Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Hogrefe, München 2010
Weber, Julia und Maja Storch: Das Zürcher Ressourcen Modell. Gefühlsregulation und die Erzeugung von Sinn durch Motto-Ziele in: Berthold, D. & Gramm, J. (Hrsg.), (2017). Psychotherapeutische Perspektiven am Lebensende. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.


Über die Autorin

Lena Schiller ist Politikwissenschaftlerin, Buchautorin und Coach. Sie hat den 1. Dan (Aikido) und 25 Jahren lang drei verschiedene Aikido-Arten trainiert. Sie ist Co-Director des House of Leadership und beschäftigt sich mit Transformation, Embodiment und Leadership.

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Embodiment: Self-Leadership und unser Körper

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Embodiment: Self-Leadership und unser Körper

Im Laufe unseres Lebens machen wir eine riesige Bandbreite an Erfahrungen, von denen wir lernen. Wir speichern diese auf sehr komplexe Art ab, um auf das Gelernte jederzeit – und vor allem im Notfall blitzschnell – zugreifen zu können. Das geschieht, indem wir neben dem eigentlichen Geschehnis auch abspeichern, welche Konsequenz es für uns körperlich oder im sozialen Miteinander hatte. Dazu ist es wichtig, dass wir auch abspeichern, was wir emotional erlebt haben. All das ist so eng miteinander verbunden, dass es sich im Nachhinein auch nicht mehr trennen lässt. Die Verkörperung von Erinnerungen und Erlebnissen wird Embodiment genannt.

Unser Körper als Erfahrungsspeicher

Wenn wir uns an eine wichtige Situation aus unserer Vergangenheit erinnern, können wir uns oft sehr lebendig auch an die Freude, Verärgerung oder Blamage dieser Erfahrung erinnern. Und nicht selten erleben wir auch eine Reihe von realen Empfindungen und Reaktionen von damals in unserem Körper wieder.

Probier es selbst kurz aus: wann hast du dich mal sehr blamiert? Vielleicht so sehr, dass es dir auch heute noch unangenehm ist? Denk einmal an diese Situation zurück: wo warst du, wer war da, was ist passiert? Wahrscheinlich dauert es jetzt nicht lange, bis sich auch im Körper die Scham von damals wieder bemerkbar macht. Vielleicht wird dein Gesicht gerade warm. Die oberen Rückenmuskeln oder Waden erschlaffen (= das Gefühl im Boden versinken zu wollen). Deine Kehle zieht sich etwas zu (= der Klos im Hals). Oder der Puls wird intensiver.

Was du jetzt spürst, ist deine Verkörperung von wichtigen Erlebnissen und Erfahrungen. Wenn wir heute ganz real wieder in eine Situation kommen, die recht nah an eine bereits gemachte, ältere Erfahrung rankommt, kommen auch die körperliche Empfindung und das emotionale Erleben aus der damaligen Situation wieder auf. Das Spannende daran ist, dass diese abgespeicherte Körperempfindungen und die dazugehörige Emotion dann blitzschnell unser Handeln leiten. Das passiert meist lange bevor wir uns überhaupt kognitiv bewusst geworden sind, was gerade passiert.

Vom Körper geleitet werden

Je öfter wir bestimmte Erfahrungen machen, um so stärker ist dieses Phänomen des inneren „Geleitet-werdens“. Und das ist gut so: wir ducken uns blitzschnell schützend weg, wenn etwas überraschend auf uns zugeflogen kommt. Oder wir spüren, dass gleich ein Streit ausbricht und ziehen uns rechtzeitig körperlich und mental zurück. Denke mal an all die Automatismen deines Lebens: wenn du – zum Glück – bereits richtig reagierst, bevor du eine Situation vollends erfassen konntest. Das hat viele Vorteile, besonders in Notsituationen. Wenn es schnell gehen muss, erspart uns der Automatismus den zeitraubenden Prozess einer langwierigen Erfassung der Situation. Aber vor allem im Alltag spart das Gehirn gerne die Energie. Anstatt immer alles erneut zu durchdenken, greift es gerne auf bewährte Handlungsmuster zurück.

Das hat natürlich auch Nachteile: nicht alle unserer automatischen Handlungsmuster sind immer gewünscht und angebracht. Zum Beispiel wenn wir viel zu früh innerlich hochfahren, weil unser Körper meint zu verspüren, dass eine Situation gleich im Streit enden könnte. Oder wenn sich dauernd eine Traurigkeit wie ein schwerer Mantel über uns legt, nur weil der Körper bereits das Muster von Hilflosigkeit aktiviert. Wenn wir reagieren, lange bevor die Situation sich entfaltet hat, nur weil es in der Vergangenheit öfter mal dazu kam.

Embodiment: unser Bewusstsein braucht den Körper

Diese sehr komplex ablaufenden Muster beschreiben Wissenschaftler als Embodiment. Der Begriff kommt aus der Kognitionswissenschaft und bezieht sich auf die Erkenntnis, dass unser Bewusstsein den Körper benötigt. Das hier das Wort Body besonders betont wird, mag daran liegen, dass man lange in den Wissenschaften den Körper außen vor ließ, wenn man kognitive Prozessen erforschte. Insofern ist Embodiment immer auch ein Plädoyer für das Konzept Soma: die Gesamtheit des lebenden Wesens, seinen Körper und seinen Geist und seine Seele als Einheit begreifend. Wir wollen im Folgenden einen kleinen Einblick geben, wie das Intelligenzsystem Körper funktioniert. Und wie wertvoll es für uns Menschen in der Selbstführung ist.

Wir wollen hier zwei Vor- und Mitdenker von Embodiment zu Wort kommen lassen: den bekannten deutschen Neurowissenschaftler Gerald Hüther und die Therapeutin und Gründerin des Zürcher Ressourcenmodells Maja Storch. Beide haben u.a. gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlern das Buch „Embodiment – Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen“ veröffentlicht (Leseempfehlung!). Außerdem wollen wir euch ein paar Erkenntnisse des portugiesischen Neurowissenschaftlers António Damásio vorstellen, bekannt durch seine Arbeiten zur Bewusstseinsforschung.

Unser Körper als Führungskraft

Wie klug und schnell der Körper beim Lernen, Entscheiden und Handlungsleiten ist, macht das folgende Beispiel deutlich: In einem Experiment ließ der Bewusstseinsforscher Antonio Damasio die Teilnehmer Karten aus vier Stapeln auswählen, durch die sie entweder Geld gewinnen konnten oder verlieren würden. Zwei Stapel beinhalteten eher kleinere Gewinne und Verluste – von 50 bis 100 Dollar. Was sie nicht wussten: bei diesem Stapel würden sie dauerhaft Gewinn machen. Die anderen beiden Stapel hatten höhere Beträge, die zu einem Verlust oder Gewinn von 500-1000 Dollar führten. Was den Teilnehmern aber in diesem Fall nicht klar war: im Laufe des Spiels würden diese Kartenstapel einen dauerhaften Verlust bedeuten. Natürlich entdeckten die Teilnehmer im Verlauf des Experiments irgendwann dieses Muster.

Das Spannende daran war, dass sich das Verhalten der Teilnehmer allerdings bereits geändert hatte, bevor sie selbst realisierten, warum. Damasio konnte durch messbare Signale des Körpers der Teilnehmer beweisen, dass ihr Körper ihr Lernen und Entscheiden sehr stark leitete: Die Hautleitfähigkeit der Teilnehmer (also die elektrische Leitfähigkeit der Haut, die mit der Menge des Schweißes auf der Haut zunimmt) begann nach einer kurzer Startphase des Spiels jedes Mal zu steigen, sobald sie die riskanteren Stapel in Betracht zogen. Ihre Körper reagierten bereits auf das unterbewusst wahrgenommene Risiko mit einer somatischen Reaktion – mehr Schwitzen. Und diese Reaktion leitete sie unterbewusst schließlich dazu, doch lieber Karten von den sichereren Stapeln zu ziehen, bei denen ihr Körper offenbar nicht diese Stressreaktion zeigte. Die Körpersignale nennt Damasio „somatische Marker“.

Soma = die Gesamtheit aus Körper, Seele und Geist

Daraus lässt sich ableiten, dass unser Bauchgefühl mehr ist als nur eine Metapher. Es ist tatsächlich etwas, das uns dank abgespeicherter Erfahrung all unsere kognitiven Prozesse – wie hier das Entscheiden – unterstützt. Oder um es genauer auszudrücken: kognitive, emotionale und somatische Prozesse im Körper sind lediglich drei verschiedene Komponenten des gleichen einheitlichen Prozesses. Das Eine gibt es ohne das Andere nicht.

Gerald Hüther leitet in seinem Text „Wie Embodiment neurobiologisch erklärt werden kann“ die nichttrennbare Einheit von Körper und Psyche sehr eindrucksvoll her. Er formuliert in einem Zwischenfazit:

„Das Gehirn und der Körper stehen in einer engen, untrennbaren Beziehung. Diese Beziehung ist nicht vom Himmel gefallen. Sie war von Anfang an da und hat sich im Verlauf der Herausbildung und Ausreifung körperlicher und zentralnervöser Strukturen in wechselseitiger Abhängigkeit ständig weiterentwickelt. Durch ihre gemeinsame Geschichte sind Körper und Gehirn daher auf ähnlich untrennbare Weiser miteinander verbunden, wie alles Lebendige, was sich miteinander entwickelt und in voreinander abhängiger Weise herausgebildet hat: Pflanzen und pflanzenfressende Tiere, Männer und Frauen, Politiker und ihre Wähler, Bücherschreiber und Bücherleserinnen. Das Eine ohne das Andere funktioniert nicht. Wenn sich eines von beiden verändert, muss das andere auf diese Veränderung reagieren – eine Wechselwirkung besteht.“

Embodiment als Wechselwirkung

Seine Mit-Autorin Maja Storch beschreibt in einem Text „Wie Embodiment in der Psychologie erforscht wurde“ daran anschließend: 

„Wenn Menschen denken, fühlen und handeln, tun sie dies nicht wie körperlose Gespenster. Der Körper ist immer mit im Spiel. Nehmen wir zum Beispiel das Gefühl von Stolz. Schon Darwin war aufgefallen, dass das Gefühl von Stolz sich für alle Welt sichtbar in einer ganz bestimmten Körperhaltung zeigt: „Ein stolzer Mann drückt sein Gefühl von Überlegenheit über die anderen aus, indem er seinen Kopf und seinen Körper aufrecht hält. Er ist so hoch aufgereckt und macht sich selbst so groß wie möglich; so dass man metaphorisch davon sprechen kann, dass er wie angeschwollen oder aufgeblasen von Stolz ist.“ (Darwin, 1872/1965, pp. 263-264)

Diese Beobachtung von Darwin kann man aufgrund eigener Erfahrung sofort nachvollziehen, wenn man sich Menschen in Erinnerung ruft, die aus irgendeinem Grund von Stolz erfüllt sind. Ist der Grund aktuell neu eingetreten, wie zum Beispiel der erste Preis im Sackhüpfen beim Kindergeburtstag, sieht man einen kleinen Gewinner in dieser aufgerichteten Haltung herumSTOLZieren, so lange bis ein neues Ereignis das Gefühl von Stolz durch eine andere psychische Erfahrung ersetzt. Die Körperhaltung des Stolzes kann aber auch dauerhaft eingenommen werden, wie bei der 88jährigen adligen Offizierswitwe, die vor dem Zweiten Weltkrieg Gutsbesitzerin in Ostpreußen war.[…]

Das psychische Erleben, das von einem – äußeren oder inneren – Ereignis ausgelöst wird, muss außerdem auch keineswegs immer zu Bewusstsein kommen, um eine Veränderung der körperlichen Verfassung auszulösen. Diese Vorgänge verlaufen oft unbewusst. Die Autofahrerin merkt erst richtig, wie wütend sie über den Opi ist, der vor ihr auf der linken Spur der Autobahn mit 90 entlang tuckert, wenn sie sieht, dass die Knöchel ihrer Hand schon ganz weiß sind, weil sie ihr Lenkrad so festhält.“

Unsere Körpersignale – oder: somatische Marker

Die meisten von uns kennen das und wissen wie Ereignisse und unser inneres Erleben (dieser Ereignisse) zu Körpergeschehen führt. Der langsame Opi führt zu Genervtheit. Die führt zu Anspannung. Und die wiederum führt zu schlechter Durchblutung und damit zu weißen Fingerknöcheln. Deswegen nehmen wir in der Regel unsere Alltagserfahrungen auch in dieser Kausalität wahr: Ich tanze durch das Wohnzimmer, weil ich so glücklich bin, weil ich auf eine Party eingeladen wurde. Maja Storch leitet allerdings in ihrem Text in einen Aspekt ein, der aufzeigt warum Embodiment relevant für Selbstführung ist: Kann es vielleicht auch umkehrt sein: ich bin genervt, weil ich die Augenbrauen hochziehe? Die Abfolge von Ursache und Wirkung funktioniert genauso umgekehrt: Weil ich den Kopf hängen lasse, fühle ich mich unglücklich.

Manch einer kennt vielleicht das Stiftexperiment, das die drei Forscher Strack, Martin und Stepper 1988 mal durchführten: sie ließen Probanden einen Stift zum Schreiben entweder mit den Lippen festhalten oder mit den Zähnen – ohne Berührung der Lippen. Dabei wird entweder die fürs Lachen relevante Muskulatur blockiert, oder sie wird stark aktiviert. Das Ergebnis: die mit dem Lippen-Stift empfanden einen gezeigten Comic, deutlich weniger lustig, als diejenigen mit dem Stift zwischen den Zähnen. Denn sie hatten dadurch ihre Lachmuskeln aktiviert.

Emotionen haben immer eine körperliche Komponente (wie ihr im Beitrag „Emotionen und Führung“ lesen könnt). Daher ist jedes Ereignis, das wir in unseren Erinnerungen zusammen mit der Emotion abspeichern, auch mit einer Reihe von Körperempfindungen verbunden, die wir beim ersten Durchlaufen der Erfahrung verspürten. Einerseits erleben wir diese Empfindungen dann erneut, wenn wir uns in einer ähnlichen Situation befinden oder uns an sie erinnern. Andererseits können wir durch das Reaktivieren einer Körperempfindung – ein gesenkter Kopf, verschränkte Arme etc. – auch die Situation und die dazugehörige Emotion erneut erleben.

Embodiment: Realität und Weg zugleich

Machen wir nochmal den Versuch: Was ist dein peinlichster Moment im Leben gewesen? Erinnere dich nochmal daran – wie fühlte sich das an? Ziemlich wahrscheinlich fühlte es sich nicht allzu gut an. Wahrscheinlich kannst du wieder das Gefühl der Verlegenheit oder Scham erleben. Spürst du auch den körperlichen Schmerz, der aus den Veränderungen im Körper resultiert, weil wir verschwinden oder uns ganz klein machen wollen? Ein Loch in der Magengrube, der Körper sackt zusammen, die Brust fällt ein, die Waden werden schwach und der Kopf senkt sich.

Und umgekehrt: was können wir tun, um da wieder rauszukommen? Aufrichten, den Kopf heben, durchatmen, die Beine ausschütteln und den Brustkorb bewusst weiten. Das Einnehmen einer stolzen Körperhaltung wird wahrscheinlich genau das in uns auslösen: ein positives Gefühl. An dieser Stelle ist es wichtig, Embodiment von klassischen Körpersprachetechniken abzugrenzen. Wenn wir uns einfach nur antrainieren, erhobenen Hauptes zu lächeln, erreichen wir in vielen Fällen nur zunächst eine Verbesserung. Aber dauerhaft leider auch das Gegenteil von dem, was wir beabsichtigt hatten: wir wirken irgendwann unauthentisch – auf uns und andere.

Und dennoch gibt es hier einen Bereich von Embodiment, der besonders für das Thema Selbstführung relevant ist. Embodiment beschreibt nämlich nicht nur die Realität der Einheit von Körper, Geist und Seele. Es beschreibt auch den Weg, den wir im erwachsenen Leben bewusst gehen können, um uns dieser Einheit im Alltag bewusst zu werden. Und sie in der Selbstführung bewusster zu nutzen. Als Erkenntniswerkzeug ebenso wie als Hilfestellung bei gewünschten Veränderungen.

Embodiment (wieder) lernen müssen

Warum wir zunächst aber Embodiment (erst wieder) erlernen müssen, obwohl das doch eigentlich der menschliche Grundzustand ist: das beschreibt Gerald Hüther als die „Vertreibung aus dem Paradies“. Zum einen lernen wir aufgrund unserer Sozialisierung früh unseren Körperempfindungen nicht zu sehr zu vertrauen. Zum anderen haben wir manch wichtige Erfahrungen mit so starken Körpersignalen abgespeichert, dass wir alles tun, um der Erfahrung aus dem Weg zu gehen.

Er beschreibt das folgendermaßen am Ende dieses Absatzes: „Für die Herausbildung der Vorstellung von dem, was man selbst ist, spielt mit der einsetzenden Sprachentwicklung die Bewertung des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns durch andere wichtige Bezugspersonen eine zunehmend stärker werdende Rolle. Die inneren Repräsentationen, die das Selbstbild eines Menschen prägen, werden darum ganz wesentlich dadurch geformt, was man an Zuschreibungen und Bewertungen von anderen erlebt und verinnerlicht.

Aus diesem Grund enthält das Selbstbild eines Menschen oft Fremd-Komponenten, die nicht mit dem ursprünglichen Körper-Selbst übereinstimmen, das ja durch die eigenen Körpererfahrungen entstanden ist. Die „fremden“ Komponenten des Selbstbildes können das eigene Körper-Selbst sogar partiell überlagern, überformen und unterdrücken. Die Verbindung mit und damit auch der Zugang zum eigenen Körper ist dann mehr oder weniger stark blockiert.“ 

Daraus ergibt sich der zweite Punkt: warum wir aufgrund besonders starker Körpersignale bestimmten Erfahrungen immer wieder aus dem Weg gehen. Wir haben in frühen Jahren schon gelernt, der Rückmeldung anderer mehr Wert beizumessen als unseren eigenen. Warum? Hüther sagt: „Die allererste und wichtigste Aufgaben des Gehirns ist (und bleibt zeitlebens) nicht das Denken, sondern das Herstellen, Aufrechterhalten und Gestalten von Beziehungen.“ Damit sind vor allem Beziehungen im Körper, zwischen Zellen, zwischen Gehirn und anderen Organen gemeint. Diese Beobachtung gilt aber ebenso für die Beziehung zum Außen und damit auch zu unseren Mitmenschen.

Embodiment: die Beziehung zwischen dem Innen und dem Außen

Um akzeptierter Teil einer Gemeinschaft zu werden und zu bleiben, und damit seit Urzeiten das menschliche Überleben zu sichern, gehört das Unterdrücken eigener Bedürfnisse, das Annehmen der Bewertungen anderer zu den urmenschlichen Fähigkeiten. Da es ums Überleben geht, ist es auch verständlich, warum der Prozess des sich-an-die-Mitmenschen-Anpassens meist durch Angst gesteuert wird. Er wirkt somit kraftvoll in uns allen, wie Hüther ausführt. Während wir also so durch die ersten prägenden Jahre unseres Lebens gehen und dabei Erfahrungen, emotionale Erlebnisse und mit ihnen verknüpfte körperliche Reaktionen sammeln, entwickeln wir uns zu dem/der, der/die wir sind.

Die Herausforderung besteht nun darin, dass nicht alle diese in den ersten Jahren erlernten Muster für uns tatsächlich bis heute hilfreich sind. Ein Beispiel aus dem Bereich Leadership: Führung beinhaltet viele Situationen, in denen wir uns selbst sichtbar machen (müssen). Nun sind wir vielleicht aber in einer Umgebung aufgewachsen sind, in der Sichtbarkeit nicht sicher war. Wir denken da an eine Freundin, die in der DDR aufwuchs, deren Eltern Gegner des Systems waren und sich daher immer unauffällig verhalten mussten. Als kleines Mädchen lernte sie unsichtbar zu sein, den Blick zu senken, leise zu sprechen und sich nicht schnell zu bewegen.

Ist jemand so aufgewachsen, bringt ihn die Erfahrung des Sichtbarseins zurück zu den körperlichen Empfindungen von Gefahr. Das kann sich so anfühlen, als ob derjenige tatsächlich körperlich bedroht wäre, sobald er sich heute sichtbar macht. Ihr Sein ist bis heute davon geprägt, obwohl die Gefahr längst nicht mehr existiert. In ihrer Rolle als Führungskraft empfindet sie dieses Muster des Unsichtbarwerdens unter Stress als belastend. Auch wenn wir ganz anders und deutlich weniger traumatisierend aufgewachsen sind, gilt diese Art der Prägung übrigens für jeden von uns. 

Veränderung braucht den Körper als Erfahrungsspeicher

Warum können wir in bestimmten Situationen nicht die sein, die wir gerne wären? Warum können wir nicht per kognitiven Entscheidung einfach ab jetzt in uns hineinwachsen? Oder unser Verhalten einfach ändern, wenn es doch nicht mehr angebracht ist? Nun macht es die Art, wie in unserem Gehirn, unserem Nervensystem und unserer Muskulatur diese Muster in uns entstanden und abgespeichert sind, tatsächlich recht schwierig, unser Verhalten einfach mal vom Kopf her zu ändern; selbst wenn wir etwas verstanden haben und kognitiv alles dafür tun, anders zu reagieren. Wenn der Körper nicht mitgenommen wird, neigt er dazu uns in die Quere zu kommen.

Die Forschung gibt uns zum Glück Aufschluss darüber, wie wir dennoch lernen können, Aspekte unseres automatisierten im Körper verankerten Verhaltens zu verändern, die uns in unserer Selbstführung nicht dienen. Dazu müssen wir uns darin üben, uns der abgespeicherten Empfindungen und dadurch ausgelösten Verhaltensmuster bewusst zu werden. Wir lernen zunächst mit ihnen zu arbeiten und von dort aus neue bewusste Praktiken aufzubauen und zu üben. Die übergeordnete Fragen, die uns dabei leiten, sind: Wie verkörpern wir unsere Erfahrungen? Wie verkörpern wir unsere Reaktionen? 

Probiere es selbst mal für dich aus

Versuche einmal folgende Übung: Die Übung besteht darin, dass du dir einen ganzen Tag lang die Signale deines Körpers bewusst machst: Mit welcher Körperhaltung beginnst du deinen Tag und wie verändert sich diese im Laufe des Tages? Am besten nimmst du dir für diese Übung Zettel und Stift zur Hilfe und schreibst dir während des Tages Stichworte auf. 

  • Überlege zuerst: In welchen Situationen möchtest du die Signale deines Körpers wahrnehmen. Das kann zum Beispiel morgens beim Frühstück, auf dem Weg zu Arbeit, in der Interaktion mit Kollegen, während deines Feierabends mit deiner Familie sein. 
  • Suche dir zwei-drei Situationen im Laufe des Tages heraus und beantworte für jede dieser Situationen direkt während sie passieren folgende Fragen:
    • Wie hängt gerade deine Körperhaltung, dein Körpergefühl oder die Empfindungen im Körper mit deiner Stimmung zusammen?
    • Kannst du deine Gefühle verändern, indem du deine Körperhaltung bewusst veränderst?

Beispiel – vor dem Duschen morgens: „Mein Körper fühlt sich müde an. Meine Körperhaltung ist schlaff. Ich fühle mich energie- und lustlos.“ Versuche dich vor dem Spiegel zu strecken und aufrecht hinzustellen und Körperspannung zu erhöhen: „Meine Gefühl verändert sich nach kurzer Zeit, ich fühle mich etwas wacher, anwesend und lebendiger.”

Reflektiere am Ende des Tages, was du durch dieses Bewusstmachen deines Körpers und seiner Signale über dich gelernt hast. Wie geht es dir damit?

Zusätzliche Literatur

Storch, M., Cantieni, B., Hüther, G. & Tschacher, W.: Embodiment – Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Hogrefe, München 2010
Damasio, Antonio: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. List, München 1994
Hamill. Pete: Embodied Leadership – The Somatic Approach to Developing Your Leadership. KoganPage, 2013


Über die Autorin

Lena Schiller ist Politikwissenschaftlerin, Buchautorin und Coach. Sie hat den 1. Dan (Aikido) und 25 Jahren lang drei verschiedene Aikido-Arten trainiert. Sie ist Co-Director des House of Leadership und beschäftigt sich mit Transformation, Embodiment und Leadership.

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